Morgendämmerung

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Ich wache kurz vor der Dämmerung auf. Mein Kopf liegt auf Flavios Brust, ich blicke in einen sternenklaren Himmel, die Sterne verblassen langsam, während der Horizont immer heller wird. Trotzdem werden noch Stunden vergehen, bevor die Sonne aufgeht. Ich setze mich langsam auf, um Flavio nicht zu wecken und schaue auf den umliegenden Ozean. Alles ist ruhig, die Wellen glitzern im Licht der Dämmerung. Ich suche mein Gewand zusammen, das über das ganze Plateau verstreut liegt. Einen Stiefel finde ich gar nicht, der andere hängt an einem Vorsprung in der Mauer etwa vier Meter unter uns. Ich würde ihn später holen. Dann getrachte ich Flavio. Er hat sich gestern offensichtlich noch seine Hose angezogen. Seine Haare sind verwuschelt und fallen ihm in die Augen. Er sieht so friedlich aus, wenn er schläft. Ich lächle. Kein Eichhörnchen wird sich je zwischen uns stellen. Ich lache leise. Flavio murmelt etwas im Schlaf. Ich setze mich an den Rand des Felsens, ziehe ein Bein wie im Schneidersitz an mich, das andere lasse ich über den Rand baumeln und starre auf den Sonnenaufgang. Plötzlich fällt mir etwas ins Auge. Ist das... ein Schiff? Ist das möglich? Ja! Das ist definitiv ein Schiff. "Flavio! Wach auf verdammt." Ich rüttle ihn wie wild an der Schulter. Er setzt sich stöhnend auf. "Was hast du denn? Nach letzter Nacht wollte ich eigentlich ausschlafen." "Da ist ein Schiff am Horizont." Sofort ist er hellwach. Er sucht seine Sachen zusammen und versucht sich irgendwie anzuziehen, ich mache mich an den Abstieg und sammle meinen Stiefel wieder ein, den anderen finde ich, als ich unten ankomme. Ich schlüpfe hinein und renne zu unserem Haus. Flavio kommt kurz nach mir an und wir machen uns an die Arbeit. Wir haben schon hundert mal durchbesprochen, was passiert, wenn wir ein Schiff sehen. Ich renne zum Strand zu einem der Haufen aus trockenem Holz und habe in Sekundenschnelle ein Feuer entfacht. Flavio bastelt sich einen Trichter aus Blättern und beginnt zum Schiff nach Hilfe zu schreien. Wir haben nicht gehofft, dass es funktionieren würde, vor allem weil wir dachen, sie würden uns nicht hören, deswegen sind wir um so mehr überrascht, als das Schiff seinen Kurs ändert und auf unsere Insel zuhält. Wir jubeln und fallen uns in dir Arme, wir können endlich von dieser verfluchten Insel weg.
Das Schiff stellt sich als Handelsschiff mit dem Namen Morgendämmerung heraus, mit der Tendenz zu gelegentlichen freibeuterischen Überfällen, deswegen nehmen sie uns breitwillig auf, als sie hören, dass wir Piraten sind. Zwei Säbel mehr kann man immer gut gebrauchen. Sie sind auf dem Weg nach Nord-Spanien, nahe der Grenze von Frankreich und wollen einen kleinen Hafen anlaufen. Wir bekommen Essen und einen Schlafplatz und arbeiten hier und da mit, um uns alles zu verdienen.
Am vierten Tag am Abend stehe ich an der Reling und beobachte den Sonnenuntergang. Was passiert jetzt, nachdem wir in Spanien sind? - Wir müssen die Crew wiederfinden. - Aber was, wenn sie alle tot sind? Was, wenn keiner von ihnen es geschafft hat? - Dann siedeln wir uns in einem kleinen Dorf mit Flavio an. - Nein. - Heiraten. - Hältst du bitte die Klappe. - Bekommen sieben süße Piratenkinder. - NEIN! - Und leben glücklich bis an unser Lebensende ohne Gefahren, ohne Mord und Totschlag. - HÄLTST DU BITTE DIE KLAPPE! - Was hast du denn gegen diese Vorstellung? - DAS WEIßT DU GENAU, DU BIST ICH, DU HIRNLOSE DUMMTORTE. - Okay, es tut mir leid. - NA GEHT DOCH. - Könntest du bitte aufhören, mich anzuschreien? - NEIN! ICH BIN WÜTEND, LASS MICH SCHREIEN WENN ICH WILL! Flavio umarmt mich von hinten. "Hey.", raunt er mir ins Ohr. "Woran denkst du?" Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter. "Was wir machen, wenn wir in Spanien sind." "Du machst dir über die Zukunft Gedanken? So kenn ich dich gar nicht." "Ich will immer noch Olivia retten, vergiss das nicht." "Glaubst du immer noch, dass wir das schaffen? Ich meine, wir haben keine Karte mehr und kein Schiff und unsere Crew ist.." Er stoppt apprupt. "Entschuldige. Ich hab nicht nachgedacht." Ich lächle und drehe mich in seinen Armen um, damit sein Gesicht sehe. "Ich hab die Karte auswendiggelernt, ein Schiff besorgen wir uns schon und die Crew lebt noch." "Wie kannst du dir da so sicher sein?" "Es ist unsere Crew! Die stirbt nicht so schnell." Flavio lächelt und küsst mich. "Hast du gerade unsere Crew gesagt?" Ich runzle die Stirn. "Ist das nicht okay?" "Doch, doch, das ist... genial, wenn du mich fragst. Und du denkst, sie leben noch?" Ich nicke. "Mit Sicherheit. Und wir werden sie finden." Flavio lächelt. "Ich liebe dich, Natalia." Alia explodiert vor Freude, Nati versucht, nicht zu fröhlich zu sein, mein Herz macht einen Salto. "Ich liebe dich auch, Flavio." Wieder küsst er mich. Dann fällt mir plötzlich die Unterhaltung ein, die Nati und Alia vorhin hatten. Ich verspanne mich. "Was ist?" "Ich... nichts wichtiges." Er zieht eine Augenbraue hoch. "Sag schon." "Ich... du kennst ja meine zwei inneren Stimmen. Weißt du, eine von ihnen hatte vorhin eine Idee, über die ich nachgedacht habe. Aber es ist wirklich nicht so wichtig." "Komm schon, sag es mir. Du weißt, dass du mir vertrauen kannst." Ich nicke und beginne mit seinem obersten Hemdknopf herumzuspielen. "Es... Alia ist der Meinung, dass wir die Piraterie aufgeben sollten um... um ein normales Leben zu führen. Heiraten, eine Familie gründen." Bei dem Gedanken an Kinder bekomme ich eine Gänsehaut. "Alia ist eine der Stimmen, richtig?" Ich lächle. "Ja. Die verliebte. Nati ist die andere, diese Pessimistin, die immer das Schlechte sieht, aber auch irgendwie viel vernünftiger ist." Flavio lacht. "Na das hört sich ja toll an. Also... was denkt Natalia über diese Ideen, die ein Teil von ihr hat?" "Sie machen mir Angst. Ich liebe das, was ich tue und ich will es auf keinen Fall aufgeben, aber es wäre schon schön, mal eine Pause zu machen. Nur... weißt du, ich hatte immer schon Angst davor, dass etwas dauerhaft ist. Etwas Dauerhaftes wird auf Dauer langweilig und deswegen habe ich immer dafür gesorgt, dass ich nichts lange fest halte, so wie das Meer. Es ist immer da, aber es hat so viele Seiten und so viele Orte, an die man fahren kann, ich... ich habe keine Ahnung, was ich da rede, aber ich habe Angst davor, mich zu binden, weil ich Angst habe, das, woran ich mich gebunden habe, wieder zu verlieren. Vielleicht sogar durch einen Fehler, den ich begangen habe. " Ich versuche zu lächeln, die Verzweiflung zu überspielen, die in mir aufsteigt. Flavio mustert mich aufmerksam. "Ich verstehe, was du meinst." "Was hältst du von der Idee?" Er sieht mich so liebevoll an, dass ich mich sofort sicher und geborgen fühle. "Ich mache alles, solange es mit dir ist." Das löst so eine krasse Gefühlswelle aus, dass ich mir auf die Lippe beißen muss, um nicht loszuheulen. Solange es mit dir ist.

Fluch der Liebe - Die Geschichte eines PiratenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt