Spielregeln

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Heute bei Tageslicht erschien mir der Raum nicht mehr ganz so unterkühlt wie gestern Abend. Es war bereits Mittag. Niemand hatte mich geweckt. Kurz entschlossen zog ich die Sportsachen an, die Sophie mir gestern überlassen hatte. Eine dreiviertellange schwarze Hose und ein lockeres T-Shirt. Die Sachen passten perfekt und standen mir sogar.

Hastig schob ich die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster. Verkehrslärm explodierte in meinem Schädel, das Vogelgezwitscher war viel zu hoch in meinen Ohren. Erschrocken zuckte ich zusammen, begann aber sofort mich an die Umgebungsgeräusche zu gewöhnen. Nach dem zweiten Mal hinhören, waren sie schon fast wieder in den Hintergrund eingeflochten.

Sophies Villa war das letzte Haus in dieser Straße. An einer Seite grenzte das Grundstück nahtlos an einen Wald, mit dessen bauschigen Ästen ich von meinem Zimmerfenster aus auf Augenhöhe war. Gegenüber trennte eine dichte Hecke dieses Grundstück vom Nachbarhaus. Bei dem Anblick der grünen, im Wind fächernden Blätterdecke zuckte Energie durch meine Muskeln. Ich bekam unglaublich große Lust gleich rauszugehen und eine Runde zu rennen. Ich stellte das Fenster auf Kipp und verließ mein Zimmer.

Ich tapste durch den Gang und setzte dazu an, an Sophies Zimmertür zu klopfen. Bevor meine Fingerknöchel die Tür trafen, rief sie von drinnen, „Komm rein!"

Perplex öffnete ich die Tür. „Guten Morgen."

Ein zerzaustes Mädchen im Pyjama zog die Kopfhörer von ihren Ohren. „Guten Morgen. Wie hast du geschlafen?"

„Wie ein Stein.", grinste ich, „Und du?"

Sophie machte eine 'so lala' Geste. Dann musterte sie mich, „Perfekt! Dann können wir ja gleich los. Warte schnell draußen, ok?"

Ich musste kaum zwei Minuten warten. Sophie riss ihre Zimmertür auf und hastete vor mir die Treppe herunter. Jetzt trug sie schwarze Shorts, ein eng anliegendes Tanktop und Laufschuhe mit buntem Logo. Gebändigt waren ihre Haare nicht, doch sie waren zu einem Zopf zusammengefasst. Verpeilt folgte ich ihr.

„Nicki und ich sind draußen! Wir nehmen Robin mit!" Unten angekommen sah ich ihre Eltern, wie gestern saßen sie nah zusammen auf dem Sofa. Ein Ausbund an gelassener Kraft, wie Löwen die in der Mittagshitze ruhten - nur eindrucksvoller. Meine Haare stellten sich zu Berge. Viel schüchterner als gewohnt, wünschte ich, „Guten Morgen."

„Guten Morgen!", über sein Tablet hinweg grüßte Sophies Vater gut gelaunt zurück. Die Richterin lächelte mit kalten Augen und nickte mir zu. Ungeduldig legte Sophie ihre Hand auf die Türklinke. Am liebsten wäre sie scheinbar einfach rausgerannt.

Madelaines Lippen kräuselten sich zu einer unausgesprochenen Verneinung, „Zu eurer Joggingroutine?"

„Ja, nicht verwandelt.", sagte Sophie fast ein wenig patzig. Madelaine warf ihrem Mann einen Blick zu. Arno erwiderte den Blick mit einem liebevollen Lächeln und purer Zuneigung in den Augen. Er war das komplette Gegenteil von seiner Frau. „Dann viel Spaß euch Dreien.", wünschte sie. Mit einem Zwinkern, das Arno Madelaine schenkte, fügte er an, „Aber passt auf Robin auf."

„Bis später!", flötete Sophie und stürmte los wie ein Sprinter nach dem Startsignal.

Nicki machte sich draußen schon warm - mit Klimmzügen an einem Ast. Das letzte Mal als ich Klimmzüge gemacht hatte, schaffte ich sieben. Nicki machte Klimmzüge während wir aus der Tür traten, bis wir bei ihr waren und meinte dann, während sie sich gerade hochzog, sie sei gleich fertig.

Das war kein Jogging. Das war ein Überlebenssprint. Wir preschten quer durch den Wald, Nicki sprang über umgestürzte Stämme, duckte sich unter Ästen hinweg und lief Slalom um die Bäume. Lässig drehte sie sich zu mir um und joggte rückwärts. Ich ging auf ihre Provokation ein, wir rannten um die Wette. Sie und Sophie waren kräftig und geschmeidig zugleich. Die meiste Zeit 'joggten' wir aufeinander abgestimmt in der Gruppe, außer wenn einer von uns Affe an einem Ast spielen oder über irgendwelche Gräben oder andere Hindernisse springen wollte, die zufällig nicht auf unserem Weg lagen.

Die Diebe des MondamulettsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt