Ausflug

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Plötzlich landete sie auf meinen Schultern und hielt sich an meinen Haaren fest. Palome. Ich hatte sie schon die ganze Zeit gerochen. Angestrengt versuchte ich nicht zu stolpern, vor allem um sie nicht aus dem Gleichgewicht und vielleicht zu Fall zu bringen. Obwohl Palome, wenn ich stürzen sollte, vermutlich längst auf den Füßen gelandet wäre, noch während ich auf den Boden hinabsegelte. Aus den Augenwinkeln sah ich die Spitzen ihrer Schuhe, erst jetzt verstand ich, dass sie auf meinen Schultern stand. „Du freche Nudel!", rief ich gespielt verärgert, suchte blind nach den Armen des Mädchens und hielt sie fest. „Buuuuuhh!", rief sie und zog nochmals an meinen Haaren. Mit beiden Händen griff ich ihren Bauch und hob sie kopfüber von meinem Rücken. Ich stellte sie auf dem Boden ab und kitzelte sie. Dabei lachte ich boshaft. Lachend und quietschend schlug sie um sich, haschte nach meinen Armen. Blitzschnell rollte sie sich zur Seite, sprang auf und rannte davon. „Du entkommst mir nicht!", rief ich und rannte ihr nach. Sie schlug scharfe Bögen und verschwand im Unterholz. Als ginge mir die Puste aus, wurde ich langsamer, stützte mich nach vorne auf den Knien ab und wischte über meine Stirn, „Puh!", machte ich laut. Suchend sah ich mich um. „Pao!", lockte und drohte ich ihr gleichzeitig, „Wo bist du?" Gerade zog sich meine Nase kraus, als ich in Betracht zog, sie tatsächlich verloren zu haben, da sprang sie vor mir hinter einem Baum hervor und zog eine Grimasse, „Buuuuhh!"

„Ahhh!", rief ich und hob schnell die Arme vors Gesicht. Palome lachte ausgelassen. Dann begriff sie, dass ich mich nicht verwandeln würde und verzog enttäuscht den Mund. In dem Moment nahm ich die Arme runter und grinste fies. Ich hob sie hoch und wirbelte herum. „Lach nicht!", herrschte ich böse zwischen ihren begeisterten „Hui hui!" Rufen.

„Nochmal!", schrie sie, als ich sie auf dem Boden abstellte.

„Ne, mir ist schwindelig.", sagte ich und setzte mich hin.

„Mir auch.", grinste sie und ließ sich neben mir fallen, „Hat aber trotzdem Spaß gemacht."

„Bist du schonmal Achterbahn gefahren?", fragte ich.

„Wir waren mal auf einem Stadtfest, da gab es viele Fahrgeschäfte. Da war so ein Gruselhaus, durch das man durchgehen konnte. Das war cool."

Ich musste kichern. Irgendwie passten Palome und Gruselhäuser ziemlich gut zusammen. Sie hatte so eine Ader fürs Erschrecken...


Wir verließen den Wald und mir war es tatsächlich wichtig, pünktlich zu sein. Heute würden die von Brams einkaufen gehen und ich durfte mitkommen. Endlich würde ich wieder mit anderen Leuten in Kontakt treten, von dem Villengrundstück runterkommen und Stadtluft schnuppern. Der Ausflug würde nicht länger als zweieinhalb Stunden dauern und ich musste ständig mit ihnen zusammen bleiben. Aber das war egal und nichts, das meine Erleichterung und Euphorie ausbremste.

Einige Tage danach wurde mir sogar noch mehr zugetraut. Sophies Eltern hetzten von einem geschäftlichen Termin zum nächsten und in dieser Zeit durften Natasha, Sophie und ich in der Innenstadt bummeln. Wir holten uns Eiscreme und schlenderten durch die Shoppingmeile. Es war Nachmittag, die Sonne schien, nicht eine Wolke kreuzte ihre Bahn. Tausend- millionen Eigengerüche, Parfümdüfte und Menschen überall die schnelle Bewegungen machten. Die ersten Minuten konnte ich kaum atmen ohne das Gefühl zu haben, nicht genügend Sauerstoff abzubekommen. Gegen die gute Waldluft, war der Smok in der Innenstadt total ungwohnt. Mich schockte nichts. Mein inneres Ich blieb so ruhig wie ein Bär im Winterschlaf.

„Meint ihr, ich darf bald wieder machen was ich will?", ich schleckte über eine Kugel Pistazieneis. Meine Lieblingssorte.

„Wie, was du willst?", prustete Sophie auf einmal los, so sehr, dass selbst Nicki und ich lachen mussten.

„Na klar. Banken ausräumen und was ich in meiner Freizeit nicht so treibe."

Nicki warf mir einen schiefen Seitenblick zu und starrte ohne zu blinzeln. Ihr Blick machte mich nervös, sie war ja nicht nur aus irgendeinem Grund Sophies Bodyguard. Selbst ihre Blicke wirkten bedrohlich. Nach einigen Sekunden schnaufte ich, „Das war nur ein Scherz." Nickis Reaktion und die kleine Situation zwischen uns brachte Sophie erneut zum auflachen.

Endlich wandte Nicki wieder den Kopf ab.

„Das mit der Lügendecke,", flapsig fuhr sie mit zwei Fingern vor ihrer Kehle auf und ab, „das ist irritierend, echt."

„Mein Robbi ist eben ein echter Bösewicht.", Sophie umfasste meinen Arm und schmiegte ihren Kopf an meine Schulter. Mein Herz begann sofort schneller zu schlagen. Ich schluckte. Ich wurde rot und sah auf den Boden. Sophie lachte laut und ließ mich los. Ich spürte noch immer ihre Berührung an meiner Seite.


„Jetzt noch nicht.", sagte Nicki nach einigen Minuten.

„Mh?"

Sie schnaubte, „Deine Frage? Wenn es nach unseren Eltern geht, bleibst du noch ein paar Monate bei uns."

Monate? Brrr. „Nichts gegen euch, aber – naja. Ich würde schon gerne mal wieder nach Hause."

„Das ist doch verständlich.", sagte Sophie und Nicki stimmte ihr mit einem angedeuteten Nicken zu.

„Vielleicht kann ich wieder in die Schule?", schlug ich vor, „Da ist Sophie immer in der Nähe und naja, sie dauert nur einen halben, dreiviertel Tag?"

Sophie legte sich eine Hand ans Kinn und mimte einen Detektiv, „Was fasziniert diesen Junge nur so sehr an der Schule?"

„Sei doch froh, dass du nicht hin musst, Robbi.", sagte Natasha. Seit sie mich vorhin komisch angestarrt hatte, vermied sie jeglichen Sichtkontakt. Der Nachhilfeunterricht und das alleine pauken war ja ganz ok. Aber ich hatte Angst, allein wegen der Fehlzeit und den verpassten mündlichen Tests, schlechtere Noten zu bekommen. Vielleicht sahen sich die Lehrer meine Jahresprüfung gar nicht richtig an, lasen nur meinen Namen, beschlossen, dass ich krank gemacht und in Wahrheit durchgefeiert hatte, also eh nichts ordentliches zu Papier gebracht hatte, machten hier und da ein paar rote Striche und gaben mir einfach eine schlechte Note. Aber ich brauchte gute Noten um die verhauenen Tests die ich dieses Jahr bereits geschrieben hatte, auszugleichen. In mir kam eine wahnsinnige Angst hoch. Existenzangst. Angst, die sich auf meine ganze Zukunft bezog (die sehr abrupt Anfang zwanzig endete) und ein Schreckensbild hervorrief, in dem ich mit Frost überzogen, verhungert in irgendeiner Gasse lag. Dieses Bild stand mir sehr lebensecht vor Augen. Passenderweise hatte mein Unterbewusstsein es mit Details einer Gasse versehen, an der wir eben vorbeigekommen waren. In diesem Szenario war ich acht. Dennoch tauchte es nur bei Gedanken an meine Zukunft auf. Nur sehr kurz meinte ich ein Kitzeln in den Fingerspitzen zu spüren, der Wolf, der die Krallen ausfuhr. Jetzt sah Nicki mich an. „Langsam sollten wir zurückgehen.", schlug sie vor. Ihr Ton emotionslos und gleichklingend wie immer, verriet nicht ob es nur daran lag, dass wir tatsächlich in einer Viertelstunde mit ihren Eltern am Auto verabredet waren, oder eher an einer veränderten Note meines Eigendufts.

Die Diebe des MondamulettsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt