Eine neue Seite

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Ich fletzte mich auf dem Sofa im Wohnzimmer. Im Moment war ich alleine, alle waren in der Arbeit oder in der Schule. Später, heute Nachmittag, kam das neue Rudel an. Die Wochen darauf die nächsten Rudel und in zwei Monaten wurde dieses Bewahrer Ritual abgehalten. Ich schluckte meine Aufregung herunter und ließ mich von dem morgendlichen Fernsehprogramm ablenken.

Ein ulkiger Liebesfilm lief, eine Wiederholung, und endlich fiel den Protagonisten auf, dass sie sich mochten. In dem Moment klingelte es. Ich sprang auf und öffnete die Tür. Manuels Lächeln wirkte verkniffen.


„Hi.", er ging an mir vorbei. Ich folgte ihm. In der Küche ließ er seinen Rucksack neben sich auf den Stuhl sinken.

„Hey, Robin. Kommst du mit den Hausaufgaben zurecht?" Ich setzte mich ihm gegenüber hin. Manuel holte Bücher und eine Mappe aus dem Rucksack.

„Ja, geht schon."

Überrascht sah er auf, „Geht schon?"


„Naja, da war letztens so eine Physiksache."

„Gut, wir nehmen das jetzt nicht allzu ernst." Mein Hauslehrer schlug die Mappe auf und schob sie mir hin. „Wir machen hier weiter, heute gibt es kein Entkommen.", er lächelte gequält.

Brav nahm ich einen Stift in die Hand. „Okay, wir...", er beugte sich über die Arbeitsblätter, ging die Aufgaben durch, wirkte nicht so vorbereitet wie sonst. „Fang damit an.", murmelte er leise und lehnte sich zurück. Müde fuhr er sich übers Gesicht. Hatte er vielleicht einen Kater? Ich arbeitete still vor mich hin und warf zwischendurch jedes Mal skeptischer werdende Blicke zu meinem Hauslehrer. Nach einigen Sekunden schwieg er noch immer. Er saß einfach nur da, baute keine Städte aus Obst und dem Inhalt seines Federmäppchens, summte oder pfiff nicht, sah nichtmal schräg grinsend zwischen der Uhr und mir hin und her, um mich anzuspornen. Das war untypisch. Sehr sogar. Demonstrativ legte ich den Stift vor mich und verschränkte die Arme. Manu schien es gar nicht aufzufallen. Nach einigen Sekunden fragte ich, „Alles okay?"


Erschrocken fuhr er zusammen. Er atmete tief durch, „Na, Robin?", sein Lächeln eine traurige Grimasse, „Kommst du nicht weiter?"

„Manu, ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du so komisch drauf bist."

Mein Hauslehrer lachte leise, „Du und konzentrieren?" Dann sanken seine Mundwinkel und er unterbrach sein sonst so heiteres Lachen. Wir hielten Blickkontakt, trugen einen Starrkampf aus. Ich knurrte.


„Lass das!", fuhr er mich plötzlich an. Ich zuckte zusammen, sofort fügte er entschuldigend an, „Tut mir leid. Du solltest nur nicht...", er verstummte. Bedrückt fragte er, „Du hast wirklich auf der Straße gelebt?"

Ah. Daher wehte der Wind. Ich lächelte und zuckte mit der Schulter, „Klingt schlimmer als es war, und so."


„Oh man."

„Alles okay?"


Verständnislos murmelte er, „Man sieht es dir gar nicht an."

Ich schmunzelte, „Was hast du erwartet?"


„Gangtattoos und Piercings.", erwiderte er wie aus der Pistole geschossen, ebenfalls schmunzelnd, „Wie alt warst du da?"

Mein Lachen wurde zu einem seichten Lächeln, „Acht. Aber ich war schon ziemlich erwachsen." Sichtlich fiel es ihm schwer, nicht allem einen Scherz anzuhängen und zu lachen, obwohl er nicht gut drauf war. Doch sein heiteres Wesen gelangte nur kurz an die Oberfläche. Einen Moment lang schwieg er mich an, dabei sanken seine Mundwinkel und seine Augen wurden dunkler, bis sie von Schatten verhangen waren. Ernst fragte er, „Musstest du schon mal Jemandem weh tun?"

„Ich habe noch nie Jemanden umgebracht, falls du das meinst?"

Erschauernd wandte er den Blick ab. Mit so einer direkten Antwort hatte er nicht gerechnet. Aber ich hatte genau die Frage beantwortet, die er so höflich umformuliert hatte. Manuel nickte leicht.


In dem Versuch ihn aufzumuntern, ahmte ich typischen Ghetto Slang nach, was mir nicht besonders gut gelang und versuchte super lässig zu wirken, „Was willst du von mir, Alter? Ich mach dich kalt."

Manu lachte auf, unterdrückte es aber sofort und machte mit den Armen eine überzogene Rappergeste, „Yo, komm mal wieder runter, man."


Gespielt beleidigt verschränkte ich die Arme, wieder völlig ich selbst. „Willst du dich über meine Umgangsformen beschweren? Bisher hat sich niemand beschwert."

„Deine Umgangsformen,", überlegte er, als gäbe es da mehrere Punkte, „also-"


„Hey!", schnitt ich ihn abrupt ab, „Wer hat bei unserer ersten Begegnung einen Streit vom Zaun gebrochen?"

Verdutzt hob Manu die Hände vor die Brust, „Welcher Streit? Das zählt hier zu den guten Manieren." Unwirsch fuhr er sich durchs Haar, „Weißt du, ich finde das schon heftig, irgendwie. Ich habe immer gedacht, du wärst ein ganz normaler Junge-"

„Ich bin ganz normal.", unterbrach ich ihn. Er grinste und ich fügte an, „Wenn man von der Werwolfsache absieht und so?"


„Habs nur nicht erwartet.", sagte er entschuldigend, „Man, kann das noch gar nicht fassen. Du warst irgendwie von Anfang an anders."

Ich wollte protestieren, entschied mich aber dagegen. Sonst hörte er am Ende noch auf, zu erzählen. „Ich meine, du warst immer sehr wachsam, hast dich immer genau umgesehen - ich meine, fährst du eigentlich nie runter? Und du bist gar nicht so schlecht darin, Körpersprache zu entschlüsseln. Schon bei subtilen Gesten reagierst du, meistens nur indem du, in einem Gespräch zum Beispiel, deine Tonart änderst oder so, aber du reagierst sofort. Jetzt ergibt das alles plötzlich Sinn. Fast ein Bisschen unheimlich. In deiner Nähe komme ich mir immer wie ein offenes Buch vor. Gut, dass ich viel stärker und klüger bin als du..."


Ich schnalzte mit der Zunge und kurz grinsten wir uns an. Diese Sache machte ihn wirklich fertig.„Du bist ja aufgelöster als ich damals.", spielte ich den emotionalen Eisklotz. In Wahrheit verwirrte es mich ihn so zu sehen und irgendwie fühlte ich mich unsicher. Ich akzeptierte jedoch, dass es nur eine weitere Seite an ihm war, dass er nicht ausschließlich der lustige, selbstbewusste Musiker war. Ich zuckte mit den Schultern. Manu grinste, wirkte schon wieder etwas entspannter.

„Und es erklärt auch,", begann er in neckendem Ton, „warum du ständig lügst."

„Hey!", rief ich lachend aus, „Das ist nicht wahr!" Bei dem Grollen meiner Lügendecke musste er endgültig lachen und ich auch. Diese Behauptung war wirklich nicht viel wert.


Die Diebe des MondamulettsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt