Schnelle Pfoten

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Die Sonne stand schon tief, Arno und Madelaine riefen uns ins Wohnzimmer.

„Eigentlich ist es Abendessenszeit. Habt ihr Hunger?", fragte Madelaine Sophie, ihre Schwestern und mich. Das Frühstück war ja gerade erst zwei Stunden her. Wir schüttelten simultan die Köpfe.

„Gut.", Arno rieb sich die Hände, „Dann los." Madelaine öffnete die Terrassentür und trat nach draußen. Alle verwandelten sich, außer Arno. Er kümmerte sich um den Neuzugang, also mich.

„Denk an etwas Unangenehmes.", bat er mich. Ich dachte kurz nach. Mir fiel die Situation ein, in der ich mit Sophie erst normal plauderte und plötzlich in das Dilemma geriet, sie aus meinen Angelegenheiten heraushalten zu müssen. Als sich die Verwandlung einleitete, lächelte er. Meine Muskeln zuckten und ich fiel wieder hin. Langsam hatte ich das satt! Arno war bereits verwandelt, als ich mich wieder aufrappelte. Nicki, Sophie, Palome und Madelaine warteten im Garten auf uns.

Madelaine und Arno rannten vorne weg und wurden immer schneller. Nicki überholte mich. Aber Sophie blieb neben mir. Völlig entspannt hielt sie meine Geschwindigkeit. Für ihre Unterstützung war ich ihr dankbar, aber ich wollte nicht, dass sie wegen mir zurückblieb. Die beiden Alphas legten sich leicht in eine Kurve, sie bewegten sich völlig synchron. Ich kann nicht mithalten, dachte ich frustriert. Dann biss ich die Zähne zusammen, zwang meine Gedanken aus meinem Kopf und konzentrierte mich voll und ganz auf die Koordination meiner Beine und meiner Sinne. Mit einer Schnauzenlänge überholte ich Sophie, sie schielte zu mir und ich hatte das Gefühl, dass sie lächelte. Ohne weitere Anstrengung schloss sie zu mir auf.

Die Schnelligkeit der Alphawölfe verlangte mir alles ab, aber ich schaffte es, sie zu halten. Wir legten einige Kilometer zurück. Bald konnte ich eine Straße hinter den Bäumen erahnen, auf die wir zuhielten. Ich erkannte das Gebiet sofort wieder. Graue Gebäude zwischen schwarzem, zerrissenen Asphalt. Überrascht strauchelte ich und blieb kurz zurück. Das war das stillgelegte Industriegelände, mit seinen leeren Fabrikhallen. Dort gab es keinen Straßenverkehr, keine Wohnhäuser oder Geschäfte. Dieses Gebiet war für die Menschen völlig uninteressant geworden. In einem dieser Gebäude hatten sich Riko und die Gruppe eingerichtet. In meinen Augen war es ein ziemlich cooler Unterschlupf. Durch das Waldstück, durch das wir gerade rannten, wollte ich gestern zu meinen Freunden gelangen; sie vor den neuen Dieben warnen, nachdem ich mich mit der Bande geprügelt und Sophie mich gebissen hatte.

Durch die Ablenkung hatte ich minimal an Geschwindigkeit verloren, das zeigte sich daran, dass ich fast den Anschluss an die Gruppe verlor. Sophie sah über die Schulter zu mir zurück, sie war im Begriff, langsamer zu werden um neben mir Schritt zu halten. Ich verdrängte meine Gedanken und holte wieder auf, noch bevor sich Sophie zurückfallen lassen konnte. Arno und Madelaine rannten hinter den Bäumen an dem Gelände entlang. Dann liefen wir ein Stück durch dichten Wald, bis ein Weizenfeld vor uns auftauchte. Wir bogen ab und hielten uns immer hinter den Bäumen am Rande des Felds. Selbst in der Dämmerung schimmerte es golden. Gehetzt wandte ich den Blick ab. Die Rudelführer zwangen mich, alles aus mir rauszuholen. Diese Geschwindigkeit war absolut irre.


Klarer Himmel gab die Sterne und den Sichelmond frei. Ich war am Ende. Meine Zunge hing aus meiner Schnauze, meine Arme und Beine zitterten vor Anstrengung. Endlich wurden wir langsamer und ich erkannte das vertraute Waldstück das an das Grundstück der von Brams grenzte. Wir waren wieder zurück. Arno und Madelaine stießen sich mit den Händen ab, binnen eines Schrittes und ohne dabei anzuhalten, wurden sie wieder menschlich. Ihre Rückwandlung ging so schnell, dass ich sie kaum mitverfolgen konnte.

Arno wandte sich mit freundlich glitzernden Augen zu mir herum, „ Du hast jetzt gesehen, wie groß der südwestliche Waldabschnitt ist. Hier kannst du dich jederzeit austoben, Robin." Er zwinkerte, bevor er seiner Frau in den Garten und in ihr Haus folgte.

Auch Sophie und Nicki verwandelten sich innerhalb von Sekundenbruchteilen zurück. Irgendwann kann ich das auch. Nachdem es mich bei meinen Verwandlungen schon einige Male hingehauen hatte, setzte ich mich davor lieber hin. Diesmal hatte ich die richtigen Erinnerungen sofort parat; mein Körper, schlank, dünn fast im Gegensatz zu meiner wölfischen Komponente und glatte Haut anstelle des dichten, geschmeidigen Fells. Kleinere Füße, Klamotten, kein Zucken auf dem Kopf, wenn man in eine bestimmte Richtung hörte. Meine Knochen begannen zu knacken, meine Fingernägel wurden langsam rund, verloren ihre Krallenform.

Plötzlich knallte etwas auf meinen Kopf, ich schreckte zusammen und sofort wurde mein Verwandlungsfortschritt wieder rückgängig. Wie einem Hund tätschelte Natashas kühle Hand meinen Hinterkopf. Ich schnaubte.

„Nicki!", fauchte Sophie und schob ihre Schwester von mir weg. Nicki drehte sich zu mir um, während sie von Sophie gezogen vorwärts stolperte. Gespielt drohend rief sie, „Bild' dir ja nichts darauf ein, dass du mithalten konntest!"

Ich fiepte.

„Ich mach doch nur Spaß!"

Ich legte den Kopf schief.

Nicki lachte, aber Sophie murrte, „Das kannst du nicht bringen! Er war gerade dabei sich zu verwandeln!"

„Na und?" Ich schloss meine Augen. Sophie und Nicki kabbelten sich. Winzige Glassplitter schienen durch meinen Kreislauf zu jagen, während Muskeln und Knochen wieder menschliche Proportionen annahmen. Der Schmerz verklang und ich traute mich, vorsichtig durch meine Lieder zu spähen. Mein Fell presste sich flach an meine Haut und versickerte wie Wasser in lockerer Erde. Für einen Augenblick blieb ich auf dem Moos liegen, den durchdringenden, süßlichen Waldboden einatmend. Energie pulsierte durch meinen Körper, ich war unglaublich glücklich, obwohl es dafür scheinbar keinen Grund gab.


Die Diebe des MondamulettsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt