Kapitel 23

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Dieser Moment, wenn deine Vergangenheit dich irgendwann doch einholt, obwohl man das ganze Leben lang davon gelaufen war. Und dann überrollt sie dich einfach, lässt dich eiskalt in ihrer Dunkelheit zurück und zerstört all die Dinge, auf die du dich in der Zukunft gefreut hast.

*Ardys POV*

Mit zittrigen Fingern schloss ich schließlich die Türe hinter mir und ließ mir Taddls Worte nochmal durch den Kopf gehen.
Er hatte einen Mord miterlebt.
Von wem?
Wann?
Mein Herz raste immer noch.
Ich atmete schwer.
War es das gewesen, was ihn innerlich so zerstört hatte?

„Ardy?" ich fuhr zusammen.
„Wo warst du?"
Die Stimme meiner Mutter klang schwach und brüchig. Ihre Nachtschicht war offenbar schon vorbei, denn jetzt stand sie da, im Türrahmen zur Küche und lächelte mich traurig an. Doch ihre Augen hatten den üblichen Glanz verloren und musterten mich nun matt und besorgt. Außerdem waren ihre Augen rot und verquollen. Sie hatte geweint.
Ein bedauerndes Seufzen entglitt mir.
Seit mein Vater nicht mehr bei uns lebte, da er im Ausland arbeiten musste, hatte sich viel verändert.
Meine sonst so lebensfrohe Mutter saß oftmals weinend in der Küche.
Ich konnte es hören wenn ich schlaflos im Bett lag.
Konnte praktisch spüren wie elend sie sich fühlte.
Ich sah sie dann immer vor mir, wie sie da saß und verzweifelt versuchte sich zu beruhigen. Versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie erschöpft sie von ihrer langen Arbeit war. Versuchte optimistisch aufzutreten.
Aber ich wusste genauso wie sie, dass sie am Ende war.

„Ich war bei Taddl.", flüsterte ich zögerlich und konnte die Sorge wie einen Schatten über ihre Augen huschen sehen.
„Es ist schon nach Mitternacht."
Ein Blick auf die Wanduhr verriet mir, dass sie recht hatte.
Der Donnerstag hatte also bereits begonnen.
„Ich weiß...", murmelte ich nur niedergeschlagen.
„Geh ins Bett, Mama. Ich komme schon zurecht."
Meine Mutter nickte müde und lächelte erneut mit diesem traurigen Gesichtsausdruck, der meinem Herzen einen Stich versetzte.
Viel lieber würde ich sie schreien hören, wie sie mit mir schimpft und mir eine Strafe nach der anderen an den Hals hetzt.
Stattdessen schaute sie mich nur mit diesen wehmütigen, verletzten Augen an und ging.

Ich seufzte erneut, begab mich aber auch zu Bett, wobei an Schlaf keineswegs zu denken war.

_______
Donnerstag Früh riss mich mein ach so geliebter Wecker unsanft aus dem Halbschlaf.
Wie zu erwarten zierten dunkle Schatten meine trüben Augen und ich ähnelte wohl eher einem Zombie als mir selbst.
Einem Zombie der an Schlaflosigkeit gestorben war.

Doch als ich mich in der Schule neben Taddl fallen ließ fiel mir auf, dass dieser noch viel schlimmer dran war als ich.
Er sah einfach klischeehaft verkatert aus.

Ein kurzes Zucken der Mundwinkel bedeutete mir seine Begrüßung, doch ich regte mich nicht.
Eine unangenehme Unsicherheit ließ sich mein Herz zusammen ziehen.
Sollte ich ihm sagen, dass ich Bescheid wusste?
Sollte ich so tun als ob nichts gewesen wäre?
Ihn ansprechen?
Oder das Thema ruhen lassen?
Wusste er vielleicht sogar, dass er es mir erzählt hatte?
Nein, sicher nicht. Dafür war er gestern zu dicht.

Steif ließ ich mich auf meinen Platz sinken und versuchte meinen Nachbarn so gut als möglich zu ignorieren, was gar nicht so einfach war da meine Gedanken eigentlich nur um ihn kreisten.

Und doch wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich ihn einfach darauf ansprechenmusste.

Doch das war schwerer als gedacht.
So beschloss ich es demnächst zu tun.
Ja. Demnächst. Ist klar Ardy.
Donnerstag kam und ging ohne ein Wort darüber verloren zu haben.
Obwohl ich den üblichen Alltag mit Taddl wieder aufnahm - heißt: Treffen, nicht viel reden, mit den Gedanken abdriften, wieder gehen - traute ich mich nie über die Türschwelle der Wahrheit.
Leider.
Denn er hatte ein Recht darauf, zu wissen, was ich wusste.
So wurde es Freitag und mein schlechtes Gewissen saß mir so schmerzhaft in der Magengegend fest, dass ich einfach nicht mehr anders konnte als endlich den Mund aufzumachen. Also steckte ich Taddl in der letzten Stunde einen kleinen Zettel zu, welcher den Satz 'wir müssen reden' beinhaltete.

Taddl betrat als einer der Letzten den Schulhof und ich sah seine wasserstoffblonden Haare schon von Weitem.
„Hey." gab ich zwischen zusammen gebissenen Zähnen von mir als der Größere vor mir stehen blieb.
„Erbarmst du dich doch mit deinem besten Freund zu sprechen?"
Dabei zischte er das Wort 'besten' so herablassend, dass mich sofort wieder ein schlechtes Gewissen überkam.
„Taddl, wann hattest du vor es mir zu erzählen?"
„Was?"
„Naja, also, das mit deiner... Vergangenheit."
Er stutze misstrauisch.
„Was sollte da erwähnenswert sein?"
„Ich dachte nur, dass vielleicht irgendetwas wichtiges passiert ist?" Wow, Ardy, du bist im Lügen ja fast so gut wie im Kochen. Nicht.
Ich konnte nur noch sehen wie Taddls Gesicht einen deutlich blasseren Ton annahm und seine Stimme leicht zitterte: „Was meinst du damit?"
Ich seufzte angespannt.
„Ich war vorgestern Abend nochmal bei dir um das zu klären worüber wir am Nachmittag gesprochen haben. Aber du warst nicht da und dann habe ich dich auf der Straße getroffen, beziehungsweise vor deiner Haustüre, also du bist halt gerade nachhause gekommen-"
„Komm zum Punkt."
„Du warst betrunken und wahrscheinlich auch... auf Drogen..." ich warf ihm einen unsicheren Blick zu, doch seine Miene war kalt.
„Und dann hast du irgendetwas erzählt, dass du dabei warst als... jemand deine Schwester..." ich schluckte. „umgebracht hat..."

Als ich den Blick erneut hob, war Taddl nicht mehr nur bleich; aus seinem Gesicht war sämtliche Farbe gewichen und er starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an.
„Was?", hauchte er ungläubig.

„Ich verstehe, wenn du nicht weiter darüber reden willst aber-"
„Wieso hast du mir das nicht eher gesagt!?"
„Ähm, ich dachte du, ich weiß nicht, also-" begann ich hilflos zu stottern, doch in Taddls Augen konnte ich keine Wut wahrnehmen, sondern blanke Panik.
„Du weißt gar nichts von mir.", stieß er leise hervor und trat einen Schritt zurück.
„Du warst nicht dabei."
Verwirrt und unschlüssig was ich tun sollte, stand ich da und suchte nach Worten die mir einfach nicht einfallen wollten.
„Ardy, es tut mir leid. Aber ich glaube es wäre besser in nächster Zeit Abstand zu halten."

Was? Wieso denn das jetzt? Klar, ich fühlte mich selber ein wenig unwohl in seiner Nähe, jetzt, da ich teilweise Dinge gehört hatte die mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten aber das war doch kein Grund gleich einen Rückzieher zu machen!

„Wieso?"
„Du hast keine Ahnung!", sagte mein Gegenüber mit belegter, zitternden Stimme, ehe er sich umdrehte und fast schon zu seinem Auto flüchtete.

„Taddl! Wieso!?", rief ich ihm verzweifelt hinterher, doch das Auto war bereits losgerast.

Hatte ich etwas Falsches gesagt?
Hätte ich ihn früher ansprechen sollen?
Was war denn plötzlich los mit ihm!?

Ratlos und mit dem Gefühl der Beklommenheit in mir trottete ich nachhause und hoffte, dass Taddl das mit dem Abstand nicht ernst gemeint hatte.

Behind me ~ TardyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt