Engel ohne Flügel

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Glaubst du an den Himmel? Wie oft war Hanna diese Frage schon gestellt worden- und wie oft hatte sie sie sich selbst gestellt. Vorraus gesetzt es gab einen, dann waren Jan und Bela nun wahrscheinlich dort und nur ihre Hülle war auf Erden zurück geblieben. Eine leere Schale, allein gelassen von Seele und Geist. Eine beängstigende Vorstellung in Hannas Augen. Aber was richtete das schon aus. Sie alle mussten doch irgendwann von dieser Erde gehen, einige früher, andere später. Dass die Menschen daraus jedoch irgendwelchen Schicksals Schwachsinn interpretierten konnte Hanna allerdings nur schwer nachvollziehen. Immerhin war das doch der Grund dafür, dass man des Handelns überhaupt mächtig war: Um die Dinge zu beeinflussen. Für Hanna war dieser ganze Schicksals Kram nichts weiter, als eine faule Ausrede für jene, die das ihre nicht in die eigene Hand nehmen wollten. Man kam im Leben nicht drum herum Entscheidungen zu fällen. Ob man diese dann bereute war eine andere Sache. Man musste eben handeln, wie es die Situation erforderte.
Hanna seufzte und ließ sich noch ein Stückchen tiefer in das angenehm warme Badewasser sinken. Es war eine gute Idee gewesen ein Bad zu nehmen, um wenigstens zu probieren für einen Moment die mehr als nur beschissene Situation auszublenden, obwohl das natürlich nicht ging. Kein Wunder, ein solches Ereigniss vergaß man eben nicht so schnell und um ehrlich zu sein bezweifelte Hanna, ob sie das ganze hier jemals vergessen würde. Den Versuch war es wert. Dachte Hanna. Am liebsten wollte sie gar nicht mehr aus der Badewanne steigen, einfach nur den ganzen Tag hier im Wasser dümpeln und sich von den weichen Schaumbläschen einschließen lassen. Die waren auch viel geselliger, als die Leute da draußen. Seit diesem katastrophalen Ereignis fielen die Wortwechsel innerhalb der Gruppe recht karg aus. Sie sprachen nur miteinander, wenn es unbedingt notwendig war, jedoch in dem Wissen, dass sie alle der gleiche Gedanke quälte.
Als Hanna sich fast zur Gänze in das warme Wasser eintauchen ließ, spürte sie, wie alles von ihm verschluckt wurde. Ihr langes braun blondes Haar, der schlanke Hals und schließlich tauchte sie komplett unter Wasser. Von einem Moment auf den anderen war es still. Hanna hörte lediglich das Wasserrauschen in ihren Gehörgängen, welches alles so unwirklich erscheinen ließ, wie die skurille Lage, in der sie sich befanden. Ein Pochen oder Klopfen drang gedämpft an Hannas Ohr. ,,Hanna?" Die Stimme klang so weit entfernt. Noch einmal. ,,Hanna?" Mit einem Ruck stemmte sich das Mädchen aus dem Wasser und plötzlich war alles wieder da. Die Geräusche, die Stimme und das ungelöste Problem, vor dem sie noch immer standen. ,,Was ist denn?", fragte sie die Person, die draußen vor der Tür stand, während sie sich die Haare auswrang. ,,Ich müsste mal aufs Klo. Wie lange brauchst du noch?", fuhr die Stimme fort, welche Hanna nun eindeutig als die von Vega identifizieren konnte.". ,,Sagen wir fünf Minuten.", antwortete Hanna, die sich sofort daran machte aus der Wanne zu steigen. Sie griff sich ein Handtuch und als sie gerade damit ihre Haare abtrocknen wollte, fiel ihr Blick auf das Milchglasfenster. Man konnte zwar nichts dadurch erkennen, allerdings war sich die Blonde ziemlich sicher, dass man von dort aus in Richtung des Leichen Fundorts sehen konnte. Sie ging auf das Fenster zu, bedacht darauf mit ihren nassen Füßen nicht auf den kalten Fliesen auszurutschen. Hanna hatte recht behalten, das offene Fenster gewährte ihr den Blick auf die dicht beieinander stehenden Bäume des Waldes, die wie Wächter die Leichen der beiden Jungen behüteten. Ein Glück, dass man sie nicht sehen konnte. Hanna hatte jedenfalls genug traumatische Erinnerungen an diesen Ausflug. Ich wünschte ich könnte es ihnen sagen. dachte sie. Aber das konnte sie nicht. Niemals könnte sie den anderen aus der Gruppe erzählen, was da geschehen war, was sie gesehen hatte. Sie würden ihr doch eh nicht glauben. Verdammt, warum war das alles hier so kompliziert. Hanna wollte das Fenster gerade schliessen, da der Luftzug auf Dauer unangenehm wurde, als sie jedoch eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Erst dachte sie, es wäre nur ein Tier, doch das war einfach unlogisch. Die Art, wie es sich bewegte, wie es durch den Schnee stapfte, bedacht darauf, nicht gesehen zu werden. Nein, das war ganz eindeutig ein Mensch. Was zur Hölle sollte das? Sie hatten die Hütte doch extra dicht gemacht. Oder... das war gar keiner von ihnen. Geschockt von ihrer eigenen Überlegung blieb Hanna wie angewurzelt stehen. Binnen Sekunden hatte sich ihr Gehirn die unheimlichsten Theorien einfallen lassen und diese prasselten nun auf Hanna nieder. Kacke! Was, wenn das der Mörder ist?! Und er hat gerade das nächste Opfer versteckt?! Scheisse, Scheisse, Scheisse! Hoffentlich sieht er mich nicht! Aber ich kann nicht vom Fenster weg, sonst bemerkt er vielleicht die Bewegung. Was soll ich nur machen?! Hanna fühlte, wie Panik in ihr aufstieg, wie sich ihr Bauch zusammenzog und ihr heiß unter der Anspannung wurde. ,, Hanna, was machst du denn so lange da drin?" Hanna erlitt beinahe einen Herzanfall, als plötzlich Vegas Stimme durch das Badezimmer hallte. Sie schloss das Fenster, wickelte sich in aller eile ein Handtuch um, stiess die Tür auf und rannte unter dem verwunderten Blick von Vega den Flur entlang, als sie abgebremst wurde. Sie drehte sich um und erkannte Vegas Hand, die ihre Armbeuge festhielt. Kläglich versuchte sie sich los zu reissen, scheiterte jedoch. ,,Hanna, was ist los? Beruhig' dich erst mal. Du kannst mir alles sagen." Hanna deutete nur nach draußen, unfähig in der Eile ein Wort von sich zu geben. Vega sah sie nur fragend an. Sie schien auf eine Erklärung zu warten, aber Hanna wollte bloß schnell nachsehen, ob sie sich auch nicht getäuscht hatte. Doch wie sehr sie sich auch wand und drehte, Vegas Klammergriff entkam sie nicht. Seit wann war die denn so kräftig? ,,Sag mir doch einfach was los ist." Erst jetzt bekam Hanna den Mund auf: ,,Da stand jemand am Waldrand!". ,,Bitte?!" Vegas Gesicht war von einer Sekunde auf die andere aschfahl. Sofort ließ sie Hannas Arm los und rannte mit ihr zum Wohnzimmerfenster und schob die altmodischen Gardinen beiseite. Als sie ihr Gesicht wieder Hanna zuwand wirkte sie genervt. ,,Da ist niemand! Bist du dir sicher, dass das nicht bloß deiner Fantasie entsprungen ist?"
,,Nein, ganz sicher, da hat bis vor kurzem noch jemand gestanden!", beharrte Hanna weiterhin. Sie war doch nicht blind! Wenn sie Vega sagte, dass dort eine Person gewesen war, dann war dort auch jemand gewesen. Vega seufzte. ,,Jetzt hör mir mal zu: Wir sind alle ziemlich mitgenommen von dem, was in den letzten paar Tagen hier vorgefallen ist. Ich dachte vor kurzem auch, ich hätte Schritte im Treppenhaus gehört."
,,Das ist aber was komplett anderes!", versuchte sich Hanna zu rechtfertigen, doch Vega zeigte kein Interesse. Stattdessen setzte sie ihre Kindergärtnerinnen-Miene auf, legte Hanna beide Hände auf die Schultern und riet ihr: ,,Leg' dich besser mal hin. Unser aller Wahrnehmungen spielen in letzter Zeit verrückt. Das ist ganz normal." Sie strich sich ihren schwarzen Pony zur Seite.
,,Ich hab' mir das nicht eingebildet.", knurrte Hanna und kehrte auf ihr Zimmer zurück.
Genervt ließ sie sich auf ihr Bett fallen und starrte mit verschränkten Armen an die Decke. Sie war doch wohl in der Lage, real und irreal zu unterscheiden. Für so dumm konnte sie doch selbst Vega nicht halten. Überhaupt verwirrte es Hanna, wie sie sich in letzter Zeit aufführte. Am Anfang war sie eher schüchtern gewesen, hatte nur ab und zu ein Wort von sich gegeben. Nach und nach war sie dann immer offener geworden und hatte mehr mitgeredet. Dadurch waren ihre extremen Stimmungsschwankungen zum Vorschein gekommen. Mal war sie trotzig, dann voller Mitleid, dann wirkte sie wieder panisch und jetzt meinte sie Erzieherin spielen zu müssen. Damit ging ihr Anouk doch schon zur Genüge auf die Nerven. Zugegeben, manchmal war das schon ganz nützlich, aber doch nicht von zu vielen Menschen gleichzeitig. Manchmal brauchte man eben eine Freundin, keine Mutter. Dabei war diese lockere, freundschaftliche Seite doch das, was Hanna so an Vega schätzte. Es war eben ein gutes Gefühl jemanden um sich zu haben, der immer ein offenes Ohr für die Probleme anderer hatte. Auch wenn sie vielleicht nicht so gut im trösten an sich war, so konnte sie doch zuhören wie kein anderer und allein das konnte einen schon erleichtern- zu wissen, dass man mit seinen Sorgen nicht allein war. Mit bersorgter Miene rollte sich Hanna zum Fenster hin. Wo war diese Seite von Vega? Dicke Flocken fielen vor dem vereisten Glas zu Boden. Es wirkte alles so ruhig und so friedlich, der Himmel jedoch ließ etwas anderes vermuten. Dichte graue Wolken verdeckten die Sonne, die ihre letzten Strahlen als klägliche Hilferufe auf die Erde sandte. Es kommt bald wieder ein Sturm. Bei dem Gedanken wurde Hanna unwohl in der Magengegend. Mal ganz abgesehen von diesem ganzen potentiellen-Mörder Krams wäre es schon schwierig genug hier weg zu kommen. Ständig einsetzende Schneestürme, die wie große Wellen immer und immer wieder in beinahe schon regelmäßigen Zeitabständen über die Berghütte herfielen, machten ihnen einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Noch hinzu kam der Zeitraum, der durch die Rückkehr in Anspruch genommen wurde. Sich einen Tag lang durch Schnee und Eis zu kämpfen, wahrscheinlich während man von einem Mörder beobachtet wurde? Keine gute Idee! Hanna schwang ihre Beine aus dem Bett und setzte ihre Füße auf den weichen Bettvorleger. Langsam ging sie auf das Fenster zu und wagte schließlich einen Blick hinaus in die eisige Kälte. Sie sah zu den Tannen, die sich im imer stärker werdenden Wind bogen, zu den Fußstapfen im Schnee. Moment! Waren das da wirklich Fußspuren?! Hanna kniff die Augen zusammen. Nicht nur, dass diese Spuren genau dort waren, wo sie die mysteriöse Gestalt gesichtet hatte- sie führten auch noch in den Wald zurück. Entsetzt sah das Mädchen zu den Fußabdrücken, die immer mehr im fallenden Schnee verschwanden. Verdammt, sie hatte also doch recht gehabt. Da draußen lauerte etwas, eine unbändige Gefahr, dessen genaue Identität sie noch nicht einmal kannten. Hanna starrte tiefer in den Wald und in diesem Moment hatte sie das erschreckende Gefühl, dass ihr Blick erwidert wurde. Dass ihr jetzt, in diesem Augenblick jemand aus dem Wald entgegenstarrte.

The cabinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt