Eskalation

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Vega lag wach, ihre dunkelbraunen Augen huschten im, von Dunkelheit durchfluteten, Raum umher, schon fast panisch. Sie hatte früher bereits Angstzustände bei Nacht gehabt, aber jetzt, nach allem was sich ereignet hatte, war es nur noch schlimmer geworden. Sie war ein paranoides Wrack, direkt verängstigt beim kleinsten Laut oder einer kaum erkennbaren Bewegung. Das vermutlich schlimmste an ihrer Lage war wohl, dass sie sich trotz der Gruppe, die sie umgab kein bisschen geborgen fühlte, wie es sonst immer der Fall war. Diese Menschen konnten sie nicht beschützen, genau so wenig, wie sie Bela und Jan hatten beschützen können. Sie gestand es sich nicht gerne ein, aber sie waren schwach und Vega hatte so ein Gefühl, dass das sehr bald zu ernsthaften Konsequenzen für die Gruppe führen würde. Was, wenn sie niemals Zuhause ankämen? Was, wenn sie ihre andren Freunde und ihre Familie nie wieder sehen würde? Tränen stiegen ihr in die Augen. Hätte sie damals schon gewusst, in was für einer Lage sie sich nun befand, hätte sie einiges anders gemacht. Sie hätte ihr Leben mehr ausgekostet, hätte mehr mit ihren Freunden unternommen, wäre verreist und hätte sich mehr getraut. Sie wäre netter zu ihrem Bruder, Phillip, gewesen. Früher hatte sie ihn immer als extrem nervig empfunden und keine Gelegenheit ausgelassen ihn das spüren zu lassen. Immer war sie gemein zu ihm gewesen, doch bei der Vorstellung ihn nie wieder sehen zu können drehte sich ihr der Magen um und eine Art Schuldgefühl, welches wohl allem Anschein nach zu spät kam, stieg in ihr auf. Sie zog sich die Decke über den Kopf und rollte sich zu einer wimmernden Kugel aus Elend zusammen. So lag sie eine Weile dort, schluchzend und in ihre eigenen düsteren Gedanken versunken, als plötzlich ein entferntes Flüstern an ihr Ohr drang. Erschrocken riss Vega die verweinten Augen auf und blickte zur Tür. Ihr ganzer Körper war angespannt. Dann verstummten die Stimmen mit einem Mal und wurden durch Schritte ersetzt. Schritte, die sich genau auf ihre Zimmertür zubewegten. Die Klinke wurde langsam heruntergedrückt und zu Vegas enormer Erleichterung betrat Riccardo das Zimmer. Doch die Erleichterung schwand augenblicklich, als sie seinen Angsterfüllten Gesichtsausdruck bemerkte. Sie wollte gerade fragen was los sei, doch in dem Moment legte er einen Finger auf die Lippen und kam auf sie zu. Er war nur noch etwa einen Meter von ihr entfernt, dann begann er zu flüstern: ,,Zieh dich um, pack deine Sachen, nur das wichtigste, wir müssen weg hier!". Verwirrt sah sie ihn an, tat jedoch was er ihr gesagt hatte und ging zum Schrank, um sich Klamotten herauszusuchen. ,,Beeil dich, wir treffen uns vor der Tür im Esszimmer.", meinte er abschliessend und verliess den Raum. Vega hätte ihn nur zu gerne gefragt was überhaupt los war, doch erstens schien es nicht so, als hätten sie Zeit für eine Erklärung und zweitens war sie sich noch nicht einmal sicher, ob sie das überhaupt wissen wollte. In Eile nahm sie ihren Lieblings-Hoodie, streifte schnell ihre Hose über und wickelte sich einen dicken Schal um den Hals, bevor sie ihre Jacke anzog. Zuletzt zog sie sich ihre Stiefel an. Auf ihrem Weg zur Tür nahm sie ihr Handy und steckte es in die Hosentasche. Ein letztes Mal sich sie sich im Raum um und überlegte, ob sie etwas wichtiges vergessen hatte. Letztendlich kam sie zu dem Entschluss, dem war nicht so und ging auf Zehenspitzen durch den Flur. Dort begegnete sie Riccardo, der ihr gefolgt von einer verwirrten, jedoch todernsten Anouk entgegen kam. ,,Ok, Sarah habe ich auch Bescheid gesagt, wir sind komplett.", sagte der Junge an sich selbst gewandt. ,,Warte, was ist mit Hanna?", fragte Anouk, der Vega deutlich ansehen konnte, dass sie nach einer Aufklärung verlangte. ,,Das ist eine lange Geschichte. Aber sagen wir der Einfachheit halber, sie ist nicht ganz der Mensch, der wir dachten, der sie ist.", antwortete er knapp und Anouk war gleichermaßen überrascht als auch unzufrieden mit dieser mangelnden Aussagen, doch sie zwang sich die tausenden Fragen, die ihr auf der Zunge lagen fürs erste bei Seite zu schieben. Gerade in dem Moment als Vega sich zu fragen begann, wo Sarah eigentlich blieb betrat auch sie den Flur. Riccardo winkte sie zu sich und gemeinsam gingen sie zur Tür und der Junge schloss sie auf. Draussen wartete die nächtliche Berglandschaft auf sie- kalt, erbarmungslos und dunkel, aber auch befreiend auf eine sehr merkwürdige Weise. Für eine Sekunde stand die kleine Gruppe einfach nur in Schweigen gehüllt auf der Türschwelle. Der eisige Wind wehte um Vegas Ohren und ihre Haare flogen um ihren Kopf. Bis auf das Rauschen dieses war es erschreckend still draussen. Mit einem mal hatte Vega Angst, sehr große Angst sogar. Angst davor, was sie in dieser bitteren Welt aus Eis und Schnee zu erwarten hatte, Angst davor, wovor sie flohen, Angst davor, wie blind sie Hanna vertraut hatte. Ihr Gesicht wurde panisch, während sie zu zittern begann. Plötzlich spürte sie, wie eine behandschuhte Hanna nach ihrer eigenen griff. Erschrocken warf sie ruckartig den Kopf zur Seite und blickte unverzüglich in Anouks grüne Augen. Sie lächelte und nickte ihr zu, während sie ihre Hand kurz fest drückte, als eine Art stillen Zuspruch. Vega entgegnete das Lächeln, wenn auch etwas verunsichert. Sie sammelte sich kurz, dann traten sie gemeinsam hinaus in den Schnee. Riccardo drehte den Kopf und sah zu Sarah, die immer noch in der Tür stand. ,,Sarah, was ist?", fragte er. Das Mädchen starrte nachdenklich ins Nichts. ,,Ich weiss nicht, irgendwie habe ich das Gefühl ich hätte irgendetwas verge-", sie brach abrupt ab, als sich Erkenntnis sichtbar auf ihrem Gesicht breit machte. ,,Jetzt weiss ich es, ich habe mein Portemonnaie vergessen!", rief sie und bevor irgendwer sie aufhalten konnte stürmte sie zurück ins Haus. Vega, Riccardo und Anouk folgten ihr. ,,Sarah, komm zurück! Wir müssen schnell weg!", rief Riccardo, wohl etwas zu laut. Quietschend schwang eine Tür auf, jedoch nicht die zu Sarahs Zimmer- sondern die von Hanna. Abrupt blieb Sarah vor Riccardo stehen. ,,Ach wirklich?", fragte das Mädchen. ,,Ich habe dir vertraut Riccardo und du nutz das eiskalt aus.". Enttäuscht schüttelte sie den Kopf. Erst jetzt bemerkte Vega das Messer in ihrer Hand. ,,Leg das weg Hanna! Du weisst nicht, was du da tust.", rief Anouk geschockt. ,,NEIN! Ihr seid die, die nicht wissen, was sie tun. Lasst eine Mörderin unbehelligt unter euch leben-  das kann ich nicht zulassen!". Sie sah sich in der Runde um. ,,Kann das wirklich sein? Seid ihr tatsächlich so blind?!". Sie lachte auf. ,,Ich bin der Held, den diese Geschichte gebraucht hat!". Sie ist verrückt. Das war das letzte, was Vega dachte, bevor Hanna sich plötzlich auf Sarah stürzte, die aufschrie, als  sich die scharfe Klinge des Küchenmessers in ihre Brust bohrte. Vega wollte nicht hinsehen, aber sie war wie gelähmt. Hanna schrie, als sie erneut auf den blutigen Körper unter ihr einstach. Wie angewurzelt standen die Drei da, als sich die Verletzungen häuften und der Pulli des Mädchens sich rot färbte. Mit unglaublicher Anstrengung bewegt sie den Kopf und ein letztes mal sah Vega in ihre kristallblauen Augen. ,,Lauft.", sagte Sarah mit letzter Kraft. Anouk war die erste, die die Fassung wieder gewann. Heftig zerrte sie an Vegas und Riccardos Arm. ,,Los, weg hier!", schrei sie und riss die beiden somit aus ihrer Trance. Sie rannten, rannten durch den Flur, in dem die rote Lache, die Sarah umgab immer grösser wurde, rannten durch das Esszimmer und durch die Tür hinaus und sprinteten durch den Schnee während sie die Hütte immer weiter hinter sich liessen. In Vegas Kopf hallten noch immer Sarahs grausame Schreie wider. Warme Tränen rollten über ihre Wangen und fielen in den Schnee. Wie sehr sie sich auch bemühte, sie konnte das Gemetzel nicht vergessen. Sarahs Blick, wie sie Vega angesehen hatte. Voller Leid und schmerzerfüllt. Aber es war diese Verzweiflung in ihrem Blick, die Vega besonders quälte. Wie sie im stillen um die Hilfe ihrer Freunde gebettelt hatte, sie flehend angesehen hatte. Aber stattdessen waren sie einfach weggerannt. Einzelne Bilder flackerten vor Vegas innerem Auge auf. Hannas wutverzerrtes Gesicht, das blutverschmierte Messer. Vega rannte schneller, in der Hoffnung sie könne so ihren Gedanken entfliehen. Vor ihr liefen Anouk und Riccardo durch die Kälte und weisse Wolken bildeten sich jedes mal, wenn sie ausatmeten. Vega verlor jegliches Zeitgefühl, sie hatte keine Ahnung wie lange sie schon so durch den Schnee liefen, geschweige denn, ob sie jemals in ihrem Leben so schnell gerannt war. Ihre Beine zitterten, das Adrenalin pumpte durch ihren Körper, als sie die scheinbar endlose Strasse hinunter rannte. Trotz der beissenden Kälte fing sie an zu schwitzen. Von Panik erfüllt bemerkte sie, wie ihre Ausdauer nachließ und Erschöpfung sie von Kopf bis Fuß erfüllte. ,,Wartet!", keuchte sie an Anouk und Riccardo gewandt. Sie sah gerade noch, wie die beiden sich zu ihr umdrehten, dann kollabierte sie und fiel in den weichen Schnee.  

The cabinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt