So endet es also

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Sie war erschöpft, ihre Beine schmerzten bei jedem Schritt, ein unangenehmes Stechen jagte durch ihre Seite, während sie keuchend nach Luft schnappte. Anouk war nicht darauf vorbereitet gewesen, was soeben geschehen war. Keiner von ihnen war es. Noch nie in ihrem Leben hatte das Mädchen so grosse Angst gehabt. Sie fühlte sich schwach und verletzlich. Kein Wunder, bei dem Szenario, dass sie soeben zu Gesicht bekommen hatte. Sarah hatte das nicht verdient, einen so qualvollen Tod zu sterben, überhaupt sterben zu müssen. Anouk drehte sich der Magen um, als Schuldgefühle sie überkamen. Sie hätten Hanna aufhalten müssen, es wenigstens versuchen sollen. Stattdessen hatten sie einfach nur dagestanden, dagestanden und schweigend zugesehen, wie Hanna ihre Freundin erstochen hatte. Ohne ein Wort zu sagen, ohne einzuschreiten, ohne irgendetwas zu unternehmen. Anouk hatte sich nie für einen solchen Feigling gehalten und war immer davon ausgegangen, dass sie das Leben der anderen in einer solchen Situation über ihr eigenes stellen würde um ihre Gruppe zu beschützen. Wie sehr man sich doch täuschen konnte. In Wirklichkeit wurde sie genau so von ihren eigenen Überlebensinstinkten gelenkt, wie alle anderen auch, ohne dabei den Helden zu spielen. Wie sollte sie mit dieser Gewissheit leben? Sie hatte Sarah einem grausamen Tod überlassen. Anouk begann sich zu fragen, ob Sarah wohl genau so an ihrer Stelle gehandelt hätte. Wäre sie zu eingeschüchtert und verängstigt gewesen um etwas zu unternehmen, oder hätte sie sich dem Angreifer gestellt, um ihre Freunde zu beschützen? Sie würden es wohl nie erfahren. Sarah war tot, unwiderruflich tot, dank ihnen. Anouk spürte, wie die Bäume links und rechts von ihr verschwammen, als ihr Tränen in die Augen stiegen. Entschlossen wischte sie sie sich aus dem Gesicht. Sie durfte nicht aufgeben. Wenn sie schon daran gescheitert war den Rest der Gruppe zu beschützen, dann durfte sie nicht auch noch die letzten zwei Mitglieder verlieren- die, die noch bei Verstand und am Leben waren. Mit grosser Erleichterung bemerkte Anouk, dass sie dem Tal immer näher kamen. Zwar war es noch weit bis dahin, doch immerhin bedeutete das, dass sie mehr als die Hälfte der Strecke schon geschafft hatten. Immerhin rannten sie schon eine ganze Weile den Weg entlang und hatten nur ab und zu kurze verschnauf Pausen eingelegt um wieder neue Kraft zu sammeln und waren dann direkt weiter gerannt. Plötzlich hörte Anouk eine Stimme, kaum mehr als ein flüstern. Schlagartig hielt sie an und drehte sich um, gerade rechtzeitig um zu sehen, wie Vega die Augen verdrehte und in den Schnee kippte. ,,Scheisse!", fluchte Anouk und rannte zu ihr hin. Abgesehen von denen, die dieser Ausflug das Leben gekostet hatte, hatte Vega bisher am meisten einstecken müssen. Erst die Sache mit ihrem Fuss, dann als sie von der Treppe gestürzt war und sich den Hinterkopf aufgeschlagen hatte und letztendlich ihr Selbstmordversuch, der glücklicherweise gescheitert war. Sie war ja schon nach ihrer Ankunft in der Hütte von der Wanderung erschöpft gewesen, kein Wunder also, dass ihr Körper das alles nicht mehr mitmachte. ,,Riccardo, hilf mir sie hochzuheben!", befahl Anouk und der Junge eilte zur Hilfe. ,,Wollen wir nicht erst einmal eine kurze Pause machen?", fragte er, doch Anouk schüttelte energisch den Kopf, während sie Vegas linken Arm über ihre eigene, und den anderen über Riccardos Schulter hievte. ,,Wir können doch jetzt nicht stehen bleiben!", sagte sie entschlossen. Also gingen die beiden weiter den schmalen Pfad entlang mit Vega in ihrer Mitte.

 Es war ja schon so anstrengend gewesen, aber jetzt, wo sich auch noch das Mädchen tragen mussten war alles um einiges komplizierter geworden. Anouk zwang sich mittlerweile einen Fuß vor den anderen zu setzen und jeder einzelne Schritt kostete sie ein enormes Maß an Überwindungskraft. Schnee wirbelte um ihre Stiefel herum auf. ,,Endlich!", keuchte Riccardo, der mindestens genau so erschöpft war, wie Anouk selbst. Von neuer Hoffnung erfüllt richtete sie ihren Blick vom Boden und erblickte die Strasse, auf der sie gekommen waren, nur noch in geringer Entfernung. Das Auto stand noch immer am Rand des Weges, dort, wo sie es geparkt hatten. Ihre Schritte beschleunigten sich und der Ansatz eines Lächelns breitete sich auf ihrem von Kälte erröteten Gesicht aus. Die Sonne schob sich über den Horizont und tauchte die verschneite Landschaft um sie herum in ein orangefarbenes Licht. Als Anouks Fußsohlen den Asphalt berührten machte sich ein Gefühl der Erleichterung in ihre breit und sie schöpfte das erste mal seit langem wieder neue Hoffnung. Alles würde wieder gut werden. Sie hatten es geschafft diesem Albtraum zu entkommen. Plötzlich wurde ihr bewusst, was das bedeutete: Sie würde ihre Familie wiedersehen, ihre Freunde. Sie müsste keine Angst mehr um ihr Leben oder das anderer haben. Sie fühlte sich frei. Freudentränen stiegen ihr in die Augen. Sie konnte einfach nicht glauben, dass es endlich vorbei war. Sie hatte es geschafft! Mit einem breiten Lächeln im Gesicht und einem Gefühl der puren Erleichterung hielt Anouk Vega, während Riccardo in seiner Jackentasche nach den Autoschlüsseln kramte und den Wagen aufschloss. Gemeinsam platzierten sie das immer noch bewusstlose Mädchen auf der Rückbank und legten ihr den Sicherheitsgurt an. Anschliessend kletterten auch sie in das Auto, Riccardo nahm am Steuer Platz und Anouk setzte sich auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. Der Junge startete den Motor und das Auto setzte sich in Bewegung. Erleichtert schloss Anouk die Augen, öffnete sie jedoch verwundert als der Wagen nur wenige Sekunden später erneut zum Stillstand kam. Erst dachte sie der Motor hätte versagt, der Tank wäre leer oder ähnliches, doch als sie das Einhacken der Sicherungen für die Tür hörte kamen ihr Zweifel und ein mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit. Sie öffnete die Augen. Sie standen direkt an der nächsten Kurve, kaum ein paar Meter von dem Punkt entfernt, von wo aus sie gestartet hatten. ,,Riccardo?", fragte Anouk mit zitternder Stimme. Sie drehte den Kopf und sah dem Jungen jetzt direkt in die Augen. ,,Es tut mir leid...", flüsterte er. Die feinen Haare in Anouks Nacken stellten sich auf, als er diese Worte sprach. Sie wollte nur noch raus aus dem Auto. Hatte dieser Albtraum denn nie ein Ende? Plötzlich legte sich ein Schatten über das Licht, welches das Wageninnere durch die Windschutzscheibe hindurch durchflutete. Anouk hatte nicht einmal Zeit zu realisieren was gerade geschah, das letzte was sie hörte war ein lautes Krachen und das zersplittern von Glas, dann wurde alles Schwarz und Dunkelheit umhüllte sie. So endet es also..., dachte sie. So endet es also...

The cabinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt