,,Anouk?", rief Sarah so laut, dass es Hanna aus ihren Träumen riss. Wie hatte sie nur einschlafen können? Es war doch ihre Aufgabe, auf Vega zu achten. Sie sah zum Sofa, auf welchem das Mädchen benommen die Augen aufschlug, ebenfalls geweckt von Sarahs lautem Rufen. Es ging ihr also gut. Mit düsterer Miene stand Hanna auf und folgte dem Klang von Sarahs verzweifelter Stimme und blieb schließlich im Treppenhaus stehen. Sie warf den Kopf in den Nacken und sah hinauf zum Treppengeländer im zweiten Stock, wo der Rotschopf stand. Sarah lehnte sich weit über die Brüstung und wirkte ziemlich gestresst. ,,Was ist denn los?",fragte Hanna monoton. Ihr Gesicht zeigte keine Regung. Sie konnte Sarah nicht ausstehen, was nicht zuletzt daran lag, dass sie die Vermutung hatte, dass Sarah hinter den Morden steckte. Aber sie hatte keine eindeutigen Beweise, was es ihr unmöglich machte den Anderen klar zu machen, dass dieses Mädchen nicht ganz so unschuldig war, wie sie auf den ersten Blick wirkte. Doch Hanna ließ sich nicht von ihrer scheinheiligen Fassade beeindrucken, sie hatte Sarah durchschaut. Denn im Gegensatz zu so ziemlich jedem aus der Hütte war sie nicht blind und erkannte, dass es viel zu viele merkwürdige Ereignisse gab, in die Sarah verwickelt war und dass dies eben nicht auf Zufällen beruhte. Doch dadurch, dass sie mit ihrer Meinung allein dastand hatte sie keine Chance Sarah zu stellen, weshalb sie noch immer auf eine Möglichkeit wartete- eine Möglichkeit einen Beweis zu finden, der selbst Riccardo von Sarahs Schuld überzeugte. Obwohl langsam ihr Geduldsfaden erste Risse zeigte. Hanna ließ sich in ihrer Theorie nicht beirren, aber wenn sie wollte, dass das auch für die Anderen galt, dann musste sie schnell ein Mittel finden, mit dem sie die Schuldige überführen konnte, bevor diese noch weitere Menschenleben zunichte machte. Aber eins musste Hanna ihr lassen: Sie spielte ihre Opfer Rolle verdammt gut! ,,Anouk! Sie ist weg!", sagte Sarah mit einer Verzweiflung in ihrer Stimme, von der sich Hanna sicher war, dass sie nicht echt war. Der Fall lag doch glasklar auf der Hand: Sarah selbst hatte das Mädchen eigenhändig verschwinden lassen. Und nun versuchte sie jedem klar zu machen, wie bestürzt sie doch über ihr Verschwinden war. Wie falsch konnten Menschen doch sein. Aber die Masche würde nicht ziehen, zumindest nicht bei Hanna. ,,Wie konnte das passieren?", wollte Hanna von Sarah wissen. Das war ihre Chance sie zur Rede zu stellen. Ein falsches Wort und Hanna könnte sie entlarven. Die Frage war nicht, ob Sarah es getan hatte, sondern wie, wann und vor allem warum. Was brachte jemanden dazu vorsätzlich einen anderen Menschen umzubringen? Sarah war ein Monster. Am liebsten hätte Hanna sie auf der Stelle für ihre Taten umgebracht, aber dadurch dass sie wusste, dass sie dann kein Stück besser war als diese kaltblütige Mörderin, hatte sie sich schon lange eines besseren besonnen. Unter keinen Umständen wollte sie so sein, wie Sarah. Das würde sie sich niemals vergeben. ,,Nun ja...", fing diese an zu erklären. ,,Ich bin in ihr Zimmer gegangen und sie war nicht da. Das Fenster stand offen und später habe ich dann bemerkt, dass Fußspuren vom Fenster weg führen- genau in den Wald.". Sie verstummte. ,,Warum wolltest du denn überhaupt zu ihr?", fragte Hanna skeptisch. ,,Das tut nichts zur Sache.", meinte Sarah. Sie verschwieg also etwas. Interessant. Hatte sie etwa geglaubt, ihre unverschämte Lüge würde nicht auf Widerstand stossen? Dann sagte Sarah, wahrscheinlich um ihren Fehler zu kaschieren: ,,Wir sollten uns lieber darauf konzentrieren, was wir nun machen sollen.". Ein ganz klarer Versuch vom Thema abzulenken. ,,Was machst DU eigentlich hier? Ich dachte Riccardo wollte die erste Nachtwache bei Vega übernehmen. ", fragte Sarah, deutlich verwirrt. Jetzt nahm sie sich auch noch die Freiheit ihr Fragen zu stellen. Da hätte Sarah sich doch gleich hinstellen und rufen können: Hallo, mein Name ist Sarah und ich will, dass Hanna verdächtig wirkt! Aber das konnte Sarah total vergessen! Um ihr das klar zu machen rückte Hanna sofort mit ihrer Erklärung heraus. Nur den Teil mit der Verschwörungstheorie, die sich gegen Sarah richtete ließ sie verständlicher Weise weg. ,,Er war sehr müde und da habe ich angeboten seine Schicht zu übernehmen, damit er sich für den Rest der Nacht in sein Bett legen und schlafen kann." ,meinte sie knapp und ließ sich von ihrem Triumph nichts anmerken. Sarah machte ein Gesicht, als hätte man ihr soeben die Geheimnisse des Universums offen gelegt und stieß ein überzogenes 'Ahaaaa!' aus. So besonders war diese Erkenntnis ja nun auch wieder nicht. Weshalb also die Überraschung? Für Hanna ergab das keinen Sinn, aber Mörder waren eben gestört, bei denen musste nicht alles einen Sinn machen. Und wenn es sich bei besagtem Mörder um Sarah handelte, dann erst recht nicht. Sarah seufzte und schlug vor Riccardo zu wecken. Hanna nickte und wenige Sekunden später standen die beiden vor seiner Tür und klopften an. Keiner öffnete sie, aber aus dem inneren des Zimmers hörte man den Jungen schnarchen. Hanna betrat das Zimmer und sah Riccardo, der auf seinem Bett lag und tief und fest schlief. Seine eine Körperhälfte hing von der Bettkante und Hanna wunderte sich, weshalb er nicht schon längst herunter gefallen war. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht sich umzuziehen und lag nun in Jeans und einem viel zu großen roten Sweatshirt vor den beiden Mädchen. Sogar seine Brille trug er noch. Hanna rüttelte an seiner Schulter, wodurch er fast vom Bett gefallen wäre und sagte: ,,Riccardo, wach auf! Es ist was passiert!". Als Antwort bekam sie nur Schnarchen. Wenn die Situation nicht so ernst wäre, dann wäre das ganze schon fast lustig gewesen. Aber dadurch, dass Hanna nun erst richtig bewusst wurde, dass sie praktisch als einzige mit Sarah in diesem Haus war, bekam sie es mit der Angst zu tun. Solange Riccardo schlief stand Hanna allein da, sollte Sarah angreifen und ihre Chancen standen demnach denkbar ungünstig. ,,Warte kurz hier!", gab sie Sarah zu verstehen und hoffte, dass man nicht hörte, wie ängstlich sie war. Schnellen Schrittes lief sie in die Küche und holte ein Glas aus dem Schrank, welches sie mit Krahnwasser befüllte. Sie ging zurück zu Riccardo und Sarah, die sie fragend ansah. Hanna hielt das Wasserglas genau über dem Gesicht des Jungen in die Höhe und schüttete es aus. Prustend und spuckend riss dieser die Augen auf und richtete sich kerzengerade in seinem Bett auf. Irritiert sah Riccardo sich um. ,,Was ist los?", fragte er. ,,Es gibt Probleme.", erklärte Hanna. ,,Anouk ist weg!". ,,Was?!" ,rief er entsetzt. ,,Wie konnte das passieren? Sie ist doch nicht etwa auch...". Riccardo verstummte und Sarah erläuterte schnell: ,,Nein, es sieht nicht nach Mord aus, wenn du das meinst. Es scheint ganz so, als wäre sie aus freien Stücken gegangen.". ,,Moment, willst du etwa sagen, sie hat sich ALLEIN aus dem Staub gemacht?". Als er das sagte wirkte er wütend. ,,Wie dumm kann man denn nur sein? Sie geht da raus obwohl dort ein Mörder sein Unwesen treibt? Hat sie das etwa nicht bedacht?",sagte er und gestikulierte bei diesen Worten wild mit den Händen. ,,Vielleicht hatte sie keinen Grund sich darüber Gedanken zu machen. Vielleicht hat sie Jan und Bela ermordet und ist nun in den Wald gegangen um Beweise zu vernichten.", schlussfolgerte Sarah. Hanna musterte sie kritisch. Natürlich, jetzt schob Sarah auch noch die Schuld auf Andere. Typisch für sie. Sarah erläuterte Riccardo noch kurz, wie sich das ganze ereignet hatte und wie sie herausgefunden hatte, dass Anouk weg war, dann gingen die drei in das Zimmer der Vermissten und sahen sich um. Das war Riccardos Vorschlag gewesen, da er meinte, dass man so vielleicht auf einen Hinweis stoßen könnte, der mehr über das Motiv des Mädchens verriet. Schon nach kurzer Zeit blieb er an einer Reihe von Zetteln stehen, die über dem Tisch an die Wand geheftet waren und winkte die Mädchen zu sich. Es handelte sich dabei um Seiten, die scheinbar aus einem Notizbuch herausgerissen wurden und vollkommen mit handgeschriebenen Zeilen, Tabellen, Zeichnungen und eingekreisten Wörtern bedeckt waren. ,,Schaut euch das mal an!" ,bat Riccardo. Hanna ließ ihren Blick über die Papiere wandern und stutzte, als sie ihren Namen las. Er war auf die Mitte eines Blattes geschrieben und eingekreist und um ihn herum waren Stichpunkte mit Pfeilen verbunden, die in mehrere Kategorien eingeteilt waren. Hanna überflog das geschriebene und wurde stutzig. Dort standen Dinge wie: verschweigt etwas, Wutausbruch oder ähnliches. Unter der Kategorie Motive war ein großes Fragezeichen. Dann fiel Hanna auf, dass ihr Name nicht der einzige war, der dort notiert war. Riccardos und Sarahs Namen standen dort und auch die aller anderen. Jan und Bela waren rot eingekreist. Bei ihnen standen die meisten Fragezeichen. ,,Sie hat uns von Anfang an beobachtet, seit diese Mord Geschichte angefangen hat und hat Buch über uns geführt!", meinte Hanna geschockt. Sie konnte es nicht fassen. Sie sah zu dem Zettel mit der Aufschrift Sarah und ging die Stichpunkte, die unter 'verdächtig' eingetragen waren durch. Dort standen genau die Dinge, auf die Hanna ihre Theorie über Sarah stützte. Unglaublich. Das Beweisfeld war jedoch wie auf vielen anderen Blättern mit einem Fragezeichen versehen. ,,Beeindruckend! Ich weiß nicht ob ich entsetzt oder fasziniert sein soll.", wunderte sich Riccardo. ,,Ich meine... Es ist schon irgendwie gruselig. Sie hat uns ständig beobachtet und daraus ihre Schlussfolgerung gezogen und weiter an dem hier gearbeitet!". Er deutete zur Wand. ,,Sie wollte den Mörder unbedingt finden und nicht abwarten bis er sie findet. Und um das zu erreichen hat sie sich hier ihr eigenes kleines Büro eingerichtet und 'Ermittlungen' angestellt!". Riccardo war immer erstaunter, aber Sarah schien skeptisch der Sache und erst recht Anouk gegenüber. ,,Jetzt halt mal den Ball flach, einen Detektiv würde ich sie nun wirklich nicht nennen! Immerhin macht sie das nur, weil sie in Gefahr ist. Und im Prinzip hat sie nichts anderes getan, als abzuschätzen, wer wie gefährlich für sie ist. Und wer weiß was sie tun will, wenn sie den Mörder ermittelt hat. Vielleicht will sie ihn abstechen und somit das Problem auf ihre persönliche Art und Weise beseitigen. Sie ist also keines Falls mit einem Hüter der Gerechtigkeit in Verbindung zu bringen.", beendete Sarah ihren Vortrag. Riccardo ließ sich davon nur wenig beeindrucken. Er schaute mit großen Augen über die Papiere und deutete auf eins davon. ,,Das gibt es doch nicht!", sagte er überrascht. Sein Finger ruhte auf der groben Zeichnung eines Messers. Es war ein Abbild von dem Messer, mit welchem Sarah Anouk einen Schnitt im Gesicht verpasst hatte. Aber was war so besonders daran? Fragend sahen die Mädchen Riccardo an und dieser fing an zu erklären, dass er das Messer vor kurzem erst aus dem Kamin genommen hatte, da er zu diesem Zeitpunkt nicht genau erkannt hatte, was es war und neugierig gewesen war. Daraufhin hatte er Fingerabdrücke auf diesem bemerkt, die nicht von ihm stammten. ,,Das hat mich ziemlich verwirrt, aber dieser Zettel erklärt das, besser gesagt die Notizen darauf.", fuhr er fort. Hanna las sich den kurzen Text eilig durch: Habe heute das Messer aus dem Kamin genommen und noch mal überprüft, aber nichts gefunden. Ich weiß nicht weshalb, aber irgendetwas stimmt damit nicht, kann nur nicht sagen was. Nach Zerstörung leider nicht mehr zu beurteilen. Weitere Überlegungen erforderlich. Das erklärte tatsächlich, was Riccardo gesagt hatte. Die einzige Frage, die jetzt noch offen blieb war: Was machte Anouk eigentlich draußen im Wald?
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The cabin
Misteri / ThrillerEine Gruppe von Jugendlichen, die sich über das Internet kennen gelernt haben, planen (um einander besser kennen zu lernen) einen zwei wöchigen Urlaub in einer abgelegen Berghütte. Doch als einer von ihnen stirbt wird, wird aus Spaß schnell blutiger...