The cabin

Was wirklich geschah

Weiss. Das war das erste, was Vega sah. Helles Licht, das ihr entgegen strahlte, rein und klar. Wo war sie? Erschrocken zuckte sie zusammen, als etwas ihre Hand berührte. Sie drehte ihren Kopf zur Seite, woraufhin ein ächzender Schmerz ihr Rückgrat hinunter schoss und ihr Nacken sich verkrampfte. Sie blickte geradewegs in ein Paar grüner Augen, dass sie beschwichtigend ansah. Anouk lächelte schlicht, während sie Vegas Hand in die ihre nahm ohne dabei Vega aus den Augen zu schauen. Das Mädchen war geschockt. Anouks Gesicht war von Schrammen und Kratzern übersät, an ihrer Wange war eine tiefe Fleischwunde und um ihren Kopf wand sich ein dicker Verband. Vegas Blick wanderte von ihrem Gesicht über den ebenso schlimm zugerichteten Hals und Nacken des Mädchens, bis hin zu ihrer Hand, die mit Schläuchen verkabelt war, die zu dem Tropf neben ihrem Bett führten. Erst jetzt leuchtete es Vega ein, wo sie sich befand: Sie war im Krankenhaus. Sie liess ihre freie Hand zu ihrem Gesicht gleiten und betastete behutsam ihre eigenen Verletzungen. Auch sie hatte überall Schrammen und eine grosse Beule schmückte ihre Stirn. ,,Sie froh, dass du auf der Rückbank gesessen hast.", sagte Anouk mit einem müden Lächeln. ,,Was ist passiert? Warum sind wir hier?", fragte Vega. Anouk seufzte. ,,Das ist eine lange Geschichte. Aber um deine zweite Frage zu beantworten: Wir hatten einen Autounfall. Ein Truck hat unseren Wagen gerammt.". Für einen Moment raubte diese Aussage Vega die Sprache. Sie hatten was? Einen Autounfall? Das letzte woran sie sich erinnern konnte war, wie sie auf dem Weg das Bewusstsein verloren hatte, als sie durch den Schnee gerannt waren. ,,Vor anderthalb Wochen.", fügte Anouk noch hinzu. Mit jeder neuen Information die Anouk Vega gab taten sich tausende von Fragen in ihrem Kopf auf, die alle nur dringlichst darauf warteten beantwortet zu werden. ,,Wo ist Riccardo? Was ist aus den anderen geworden- Hanna, Sarah... Haben sie Bela gefunden?". Vega hatte noch viel mehr Fragen, aber Anouk bremste sie aus, bevor sie alle stellen konnte. ,,Ganz ruhig, komm erstmal runter. Ich werde dir alles erzählen, was ich weiss.", beruhigte sie das Mädchen. Antworten- eine ungemeine Erleichterung erfüllte Vega. Endlich würde sie erfahren, was geschehen war, wie sich alles zugetragen hatte und wer für was verantwortlich war- sofern Anouk das wusste. Also liess sie ihren Kopf in das weiche Kissen zurücksinken und lauschte gespannt Anouks Worten, als diese begann zu erzählen: 

,,Das war so: Als wir gerade eben erst die Sache mit dem Ausflug zur Hütte per Chat vereinbart und geplant hatten, hatten Hanna und Bela eine verrückte Idee. Sie wollten uns reinlegen und so einen behinderten Grusel-Scheiss bei uns abziehen. Von ihnen war auch zum Beispiel das blutverschmierte Messer- sie hatten es dort platziert um uns zu erschrecken."

,,Warte- das war nicht echt?!", warf Vega total verwirrt ein. Anouk schüttelte den Kopf.

,,Alles nur ein Fake. Nun ja, wie auch immer. Die beiden haben das ganze im Team geplant und umgesetzt. Es gab nur ein Problem: Bela wollte auch Hanna mal so richtig erschrecken und das nicht bloß auf den Rest der Gruppe beschränken. Also vermummte er sich, nahm sich ein Messer und ging in ihr Zimmer als sie schlief, um sie damit zu erschrecken. Leider hat das ein wenig zu gut funktioniert und Hanna hat sich ernsthaft bedroht gefühlt. Also hat sie dem Eindringling die Wasserflasche aus Glas, die neben ihrem Bett stand mit voller Wucht über den Kopf gezogen und daraufhin ist Bela dann nach hinten getaumelt und hat sich den Kopf an der Schreibtisch Kante aufgeschlagen. Hanna dachte er sei tot und befürchtete, keiner würde ihr glauben schenken, wenn sie die Wahrheit sagte. Also schleifte sie Bela in den Wald und versteckte ihn dort, in der Hoffnung, dass nie jemand von der Geschichte erfahren würde. Allerdings machten sich alle unglaubliche Sorgen um ihn nach seinem mysteriösen Verschwinden, deshalb haben wir dann ja auch Jan losgeschickt, der Hilfe holen sollte. Dummerweise kannte jemand aus der Gruppe Jan schon lange vor den Chats und hatte reichlich Grund ihn zu Hassen. Und besagter Jemand war Riccardo. Jan und er waren auf der gleichen Schule, bevor das alles anfing. Riccardo war Jans Mobbingopfer und soweit ich weiss war das wohl ziemlich extrem. Er hat ihm das Leben regelrecht zur Qual gemacht, ihn täglich vor der gesamten Schule bloßgestellt und ihm sogar Morddrohungen geschickt und ihn bei so gut wie jedem ihrer Aufeinandertreffen schwer verprügelt."

,,Warum hat er das getan? Jan kam mir nicht vor als wäre er der Typ für so etwas.", bemerkte Vega, die der Sache noch skeptisch gegenüberstand.

,,Jan hatte ziemliche Probleme zuhause. Seine Eltern haben ihn auf täglicher Basis geschlagen, da sie ihren eigenen Sohn als Enttäuschung empfanden. Und da Jan viel schwächer war als seine Eltern konnte er sich schlecht an ihnen rächen, also liess er alles an jemandem aus, der schwächer war als er und zumindest zu dem Zeitpunkt keine Freunde hatte. Und das tat er über Jahre hinweg, bis Riccardo irgendwann die Schule wechselte um ihm endlich zu entkommen. Nur kurz darauf schaltete sich das Jugendamt ein und Jan kam in eine Pflegefamilie, wo es ihm deutlich besser ging. Von da an änderte sich eine Menge, für Beide. Jan machte zusätzlich noch eine Therapie und wurde sogar Mitglied einer Hilfsorganisation, die sich gegen Mobbing engagierte. Ich denke das hat er gemacht, um wenigstens einen Teil seiner Schuldgefühle, die ihn sein ganzes weiteres Leben belastet haben loszuwerden, es irgendwie wieder gut zu machen und sein altes Ich gänzlich hinter sich zu lassen. Er wollte sich das wohl selbst beweisen. Währenddessen veränderte sich Riccardo äusserlich, weshalb Jan ihn auch gar nicht wiedererkannt hatte, allerdings konnten die Wunden die er vor diesen Jahren getragen hatte nie gänzlich verheilen und je mehr Zeit verging und je älter, stärker und klüger er wurde, desto sehnlicher wünschte er sich eine Konfrontation mit dem Jungen herbei, der ihn für so lange Zeit so schlecht behandelt hatte, um ihm endlich all das heimzuzahlen, was er ihm in der Vergangenheit angetan hatte. Und irgendwann ist sein Wunsch dann zur Wirklichkeit geworden. Durch Zufall war Jan im selben Chatroom, von dem auch Riccardo und wir anderen Teil waren. Riccardo brauchte nur einen kurzen Blick auf Jans Profil zu werfen, da wusste er schon um wen es sich handelte.  Er liess sich aber nichts anmerken und gewann nach und nach unser aller Vertrauen, auch Jans. Dann schlug er vor, wir sollten uns doch mal treffen und engagierte den Ausflug in die Berge. Alles war perfekt geplant- kein Handyempfang, abseits der Gesellschaft und umgeben einzig und allein von Natur, Bergen und riesigen Wäldern. Wenn man irgendwo ungeachtet morden kann, dann dort. uns andere wollte er aber möglichst unbeschadet aus der Sache raushalten. Mit der Zeit waren wir ihm ans Herz gewachsen. Wir waren seine ersten Freunde seit langem und hatten ihm nie etwas getan, ganz im Gegensatz zu Jan."

Anouk schwieg für einen Moment. Vega war sich nicht ganz sicher was sie jetzt von Riccardo denken sollte. Ganz kalt und rational betrachtet war er ein Mörder, jemand der keine Skrupel hatte Menschen vorsätzlich das Leben zu nehmen, aber auf der anderen Seite hatte er ihr nie etwas getan und nach wie vor seine Freunde beschützen wollen.

,,Als Jan dann schliesslich aufbrach, um Hilfe zu holen, war das die ideale Gelegenheit für Riccardo seinen Plan endlich in die Tat umzusetzen. Also folgte er Jan nur wenige Zeit später und stellte ihn zur Rede. Der behauptete natürlich es täte ihm Leid, was ja auch stimmte, aber das glaubte Riccardo ihm verständlicher Weise nicht und rastete komplett aus. Er attackierte den Jungen und in dem Handgemenge verletzte er ihn am Hals, so schwer, dass Jan an seinem eigenen Blut erstickte. Erst im Nachhinein wurde ihm das Ausmaß seines Handelns bewusst und ich glaube sogar sagen zu können, dass er so etwas wie Reue empfand. Das ironische daran war, dass er glaubte, dass ein Mörder Bela, seinen Freund, umgebracht hätte, obwohl das ja eigentlich nur ein Unfall war. Das gleiche galt für Hanna. Auch sie hatte weiterhin Angst vor einem Mörder und beide waren gleichermaßen verängstigt wie der Rest der Gruppe, nur dass dieser annahm, dass ein und die selbe Person hinter beiden Morden steckte. Und diese Angst hat Hanna dazu veranlasst langsam aber sicher verrückt zu werden. Sie hat sich Dinge eingebildet und wollte unbedingt den Mörder, die Bedrohung finden und zur Strecke bringen, was sie dann letztendlich auch getan hat. Arme Sarah... Sie hatte ja noch nicht einmal etwas mit der Sache zu tun. Sie konnte übrigens nur noch tot geborgen werden. Nach dem Autounfall hat der Fahrer des Wagens direkt einen Krankenwagen gerufen und im Krankenhaus hat man dann unsere Identität überprüft. Dabei stellte sich dann relativ schnell heraus, dass wir einer Gruppe von Jugendlichen angehörten, die in der Berghütte Urlaub gemacht hatte. Als dann die Frage aufkam, was mit den anderen Mitgliedern war wurden Suchtrupps ausgesandt, die Hanna und Sarah in der Hütte, und Jan und Bela im Wald gefunden haben. Bela hat es übrigens tatsächlich geschafft zu überleben und Hannas Geschichte bestätigt. Was sie angeht, sie ist momentan in der Psychiatrie. Und Riccardo- gegen den läuft momentan noch der Gerichtsprozess. Sie wollen uns für die Zeugenaussagen." 

Vega schlug sich überwältigt die Hände vors Gesicht. Das waren echt viele Informationen auf einmal und sie hatte kaum Zeit gehabt sie zu verarbeiten. Im Moment konnte sie sich auch unmöglich vorstellen, dass dieses Ereignis jetzt einfach so vorbei war. Wenn das hier endete würde sie ein komplett neues Leben beginnen und alles wäre wieder beim alten. Nein- das stimmte nicht ganz. Nichts wäre so wie es mal war. Zwar würde der Alltag zu seinem ursprünglichen Zustand  zurückkehren, aber in Vegas Kopf würde weiterhin in der Hütte sein. Und so gesehen bezweifelte sie, ob sie diese jemals verlassen könnte...