Unerwartete Rückkehr

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Ein lautes Pochen riss Riccardo aus dem Schlaf. Er wusste nicht woher es kam, geschweige denn was es war, daher blieb er für einige Sekunden einfach still in seinem Bett liegen und lauschte. Erneut hallte das Geräusch durch seine Gehörgänge, dieses mal wesentlich lauter. Es klang, als würde jemand mit bloßen Fäusten auf ein Stück Glas einhämmern. Und dann erst begriff Riccardo, was das war. Jemand klopfte mit voller Kraft an sein Fenster und wenn er sich nicht irrte, dann war dieser Jemand Anouk. Sofort schwang er die Beine aus dem Bett und lief zum Fenster. Was er dann zu Gesicht bekam, ließ ihn einen erstickten Schrei ausstoßen und er schlug sich die Hände vor den Mund. Anouk drückte ihr leichenblasses Gesicht gegen die Scheibe. Ihre behandschuhten Finger waren von Blut verklebt, welches sich nun auch in dunkelroten Streifen über das Glas zog. Ihre Augen waren geweitet von Furcht und Entsetzen. Riccardo brauchte einen Moment, bis er sich wieder gesammelt hatte und bereit war, das Fenster zu öffnen. Er lief auf dieses zu und legte den Griff um. Augenblicklich kletterte Anouk über die Fensterbank und somit in das Zimmer hinein. Riccardo hatte sich vor dem Einschlafen zurecht gelegt, was er dem Mädchen sagen wollte: Dass ihr Handeln töricht und unverantwortlich war, dass er und alle anderen sich unglaubliche Sorgen um sie gemacht hatten, dass sie nicht nur sich selbst, sondern auch den Rest in große Gefahr gebracht hatte, doch wo sie nun vor ihm stand kam ihm kein Wort über die Lippen. Mehr noch, er hatte sein Vorhaben sie zur Rede zu stellen komplett vergessen. Alles woran er denken konnte war, was ihr passiert sein konnte, was sie gesehen hatte. Er kannte Anouk gut genug um zu wissen, dass sie nicht leicht zu verschrecken war. Sie war bekannt dafür einen kühlen Kopf zu bewahren, selbst in den brenzlichsten Situationen. Sie nun so dermaßen verstört zu erleben machte Riccardo offen Gestanden ziemlich große Angst. Er sah zu dem Mädchen, welches sich gerade ihrer blutigen Handschuhe entledigte. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und begutachtete Riccardo mit einem eindringlichen Blick, der klar machte, dass die Situation ernst war. ,,Riccardo, du musst sofort die anderen holen!", befahl sie ihm mit unterdrücktem Zittern in ihrer Stimme. Der Junge zögerte nicht lange, sondern lief ins Treppenhaus und riss die Tür zu Sarahs Zimmer auf. Die Rothaarige lag, wie eine Katze zusammengerollt, auf ihrer Bettdecke und kaute an ihren Fingernägeln, während sie ins Nichts starrte. Als sie Riccardo bemerkte drehte sie sich ruckartig um und sah ihn aus, von Augenringen umrandeten, Pupillen an. ,,Anouk ist zurück, geh' schon mal ins Wohnzimmer!", meinte er knapp. Mit einem mal war Sarah hellwach und eilte ins Wohnzimmer voraus. In letzter Sekunde packte Riccardo sie am Arm. ,,Ach ja, bevor ich es vergesse: Könntest du Vega bitte bescheid sagen?", bat er. Sarah nickte ernst und ging geradewegs die Treppe hoch, um Vega aufzuwecken und Bescheid zu geben. Währenddessen lief er zu Hannas Tür. Als er sie öffnete stellte er fest, dass sie keine Probleme beim Einschlafen gehabt zu haben schien. Sie döste friedlich vor sich hin, die Bettdecke bis zum Kinn hoch gezogen. Riccardo klopfte ihr auf die Schulter. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie zu sich kam. Sie brauchte allerdings nicht lange um zu verstehen was los war. Bevor Riccardo auch nur den Mund aufmachen konnte fuhr Hanna hoch und rief: ,,Ist Anouk wieder da?". Der Junge nickte nur und erklärte ihr, sie solle schon mal vor gehen und auf ihn und den Rest warten. Hanna verschwand aus dem Raum und Riccardo folgte ihr ins Treppenhaus. Am Fuß der Treppe stand Sarah und trat von einem Fuß auf den anderen. ,,Vega ist nicht in ihrem Zimmer!", sagte sie entsetzt. Sofort drehte sich Hanna mit giftigem Blick um. Riccardo wusste genau, weshalb sie so reagierte. Sie verdächtigte Sarah des Mordes an Jan und Bela. Zugegeben, es war schon etwas mysteriös, dass es immer Sarah war, die als erste am Tatort war, wenn jemand starb oder verschwand aber noch viel merkwürdiger verhielt sich in Riccardos Augen Hanna selbst. Ihm war nicht entgangen, dass sie mit aller Kraft versuchte, die Schuld auf Sarah zu lenken, was sehr verdächtig war. Somit war sie diejenige die er in erster Linie verdächtigte, nicht Sarah. Denn wer konnte schon sagen, ob das nicht alles blöde Zufälle waren, in die Sarah verwickelt war. Aber das, worüber er sich eigentlich Gedanken machen sollte war, dass Vega verschwunden war, denn das stellte offensichtlich ein viel größeres Problem dar. Das war ja echt super, erst verschwand Anouk und dann Vega. Plötzlich steckte Hanna den Kopf hinter dem Türrahmen hervor und rief: ,,Leute, beruhigt euch. Sie liegt hier auf der Couch." Ein Gefühl der Erleichterung breitete sich in Riccardo aus und auch er betrat nun den Raum. Am Kopf des Esstisches saß Anouk, die vor Nervosität mit den Nägeln auf dem dunklen Holz des Esstisches herum klopfte und immer wieder auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. Hanna hatte bereits zu ihrer linken Platz genommen und auch Sarah saß schon auf einem Stuhl. Vega war gerade dabei sich von dem Sofa zu erheben und mit erstaunlich unsicheren Schritten auf den Tisch zu zu taumeln. Riccardo ließ sich auf den Stuhl am gegenüber liegenden Ende des Tisches sinken, sah Anouk erwartungsvoll an und nickte ihr zu als Zeichen, sie solle anfangen. Das Mädchen räusperte sich und begann zu erzählen: ,,Wie ihr ja alle mittlerweile wisst war ich im Wald und-". Sarah unterbrach sie mitten im Satz: ,,Weshalb überhaupt? Für deine Nachforschungen?". Bei dem Wort zuckte Anouk zusammen. ,,Ihr wisst davon?", fragte sie, hoffend, dass dem nicht so war. Doch sie wurde enttäuscht. Inzwischen hatte jeder davon Wind bekommen. Aber Anouk hatte keine Zeit sich darüber zu ärgern, stattdessen antwortete sie auf die Frage, die Sarah soeben gestellt hatte. ,,Ja, das ist richtig. Das ganze sollte meinen Ermittlungen dienen. Ich war der Ansicht, je mehr wir über die bisherigen Morde wissen, desto eher finden wir den Mörder und haben viel eher die Chance uns vor weiteren Angriffen zu schützen.". Das klang einleuchtend, allerdings störte Riccardo eine Kleinigkeit. ,,Moment, du sagtest du WARST der Ansicht. Soll das heißen, es hat nichts gebracht?", hakte er ein. Anouk schüttelte bedrückt den Kopf. ,,Das ist es ja gerade!", meinte sie. Sie hob ihren Blick und ihre Augen trafen die von Riccardo. In ihre darauf folgenden Worte legte sie so viel Ernst und klare Unmissverständlichkeit, dass Riccardo mulmig war. ,,Ich befürchte, ich habe zu viel herausgefunden...", erklärte das Mädchen. Keiner gab auch nur einen Ton von sich, keiner fragte was sie damit meinte, stattdessen blieb alles in dramatisches Schweigen gehüllt. Zumindest so lange, bis Anouk mit ihrer Erklärung heraus rückte. ,,Wie gesagt, ich habe mich also auf den Weg gemacht, um die Leichen der beiden zu untersuchen. Dabei ist mir dann aufgefallen, dass nicht alles so war, wie es sein sollte. Ich weiß ja nicht wie es euch geht, aber ich meine mich daran zu erinnern, dass Jan neben einem Baum oder so gelegen hat.", sagte sie und sah Riccardo und vor allem Sarah fragend an. Schließlich ergriff Sarah das Wort: ,,Ja, das stimmt. Er hat neben einem Baumstumpf gelegen. Was ist daran so merkwürdig?". Riccardo fragte sich das gleiche. Auch er wusste mit Sicherheit, dass sie Jan neben dem Stumpf eines Baumes gefunden hatten. Wozu also die Geheimnis Krämerei? ,,Was daran merkwürdig ist? Das kann ich dir ganz genau sagen, Sarah. Dass er nicht mehr da gelegen hat, als ich gerade im Wald war, sondern in einem Gebüsch versteckt war.", meinte Anouk. Zuerst war Riccardo geschockt, das ließ jedoch nach als Hanna eine plausible Erklärung für den Vorfall lieferte. ,,Das war vermutlich ein großes Raubtier, das ihn da hin geschleift hat.". Riccardo hätte sich mit dieser Erläuterung zufrieden gegeben, Anouk aber allem Anschein nach nicht, denn sie schüttelte energisch den Kopf und widersprach dem Mädchen: ,,So einfach ist das aber nicht! Oder kennst du ein Raubtier, das seine Beute entkleidet?". Was sollte das denn nun wieder bedeuten? Riccardo konnte sich beim besten Willen kein Raubtier vorstellen, das solche Dinge zu tun pflegte und bekam es so langsam mit der Angst zu tun. Dieses mal kam Sarah mit einem Einwand: ,,Ist es nicht am wahrscheinlichsten, dass es doch irgendein Tier war, das Jans Kleidung zerrissen hat, um an das Fleisch zu gelangen?". ,,Nein, es waren noch nicht einmal Kleidungsfetzen übrig. Die Kleidung war einfach weg. Sie lag auch nicht irgendwo rum, sie fehlte komplett.". Riccardo fasste ein Detail ins Auge, das bisher noch nicht einmal ansatzweise erwähnt wurde. ,,Sag mal, was ist eigentlich mit Belas Leiche? Die ist in deinem Bericht noch gar nicht vorgekommen.", wunderte sich der Junge. ,,Ja, und das hat auch einen guten Grund.", fing sie an zu erläutern. ,,Es gibt keine Leiche. Ich habe keine finden können. Ich habe extra deshalb in den umliegenden Gebüschen nachgeschaut und bin auf nichts gestossen. Dafür habe ich aber etwas anderes gefunden.". Anouk machte eine kurze Pause und kämpfte anscheinend mit unangenehmen Erinnerungen und anhand dessen, was sie dann sagte, konnte Riccardo das mehr als nur gut nachvollziehen. ,,Einen menschlichen Gebissabdruck an seinem Arm! Jemand hat... Jemand hat von seinem Fleisch gegessen! Ein Mensch!". Riccardo sog scharf die Luft ein und er war nicht der einzige, den diese Nachricht schockierte. Alle schienen von dieser beunruhigenden Neuigkeit überwältigt. Als Riccardo seine Stimme wiedergefunden hatte stellte er die Frage, die ihm schon die ganze Zeit über auf der Zunge lag: ,,Und was schließt du nun daraus? Ich meine, was hat das zu bedeuten?". Anouk sah auf: ,,Ich glaube es bedeutet, dass Bela noch am Leben ist. Und das das seine einzige Chance war, das auch weiterhin zu sein...".

The cabinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt