Angst flackerte in ihren Augen, als sie das Bett umringten, auf welchem Vega mit geschlossenen Lidern ruhte. Die letzte viertel Stunde war das reinste Chaos für sie alle gewesen, gerade für Sarah. Zumindest kam es ihr so vor. Vermutlich dadurch, dass ihr Gewissen nach wie vor unerbärmlich an ihr nagte. Aus irgendwelchen Gründen kam es ihr so vor, als sei sie an allem hier Schuld, auch wenn das natürlich nicht stimmte. Trotzdem fühlte sie sich schlecht und die Tatsache, dass Anouk nach wie vor mit einer riesigen Schramme auf ihrem Gesicht herumlief, machte es auch nicht gerade besser. Sie kam sich vor wie ein wandelnder Unglücksbringer. Und nun stand sie hier, Seite an Seite mit den Leuten, die gerade genau so verzweifelten, wie sie selbst und konnte nichts tun um Vega am sterben zu hindern. Ganz vorne lehnten sich Anouk und Riccardo über Vega und versuchten sie am Leben zu erhalten, doch die Art wie sich ihre Mienen mit jeder verstreichenden Sekunde verdüsterten ließ nichts Gutes vermuten. Sarah nahm das angespannte kauen an ihrer Unterlippe wieder auf, die inzwischen angefangen hatte zu bluten, doch Sarah achtete gar nicht darauf. Sie war so fokussiert auf das Geschehen, dass sie alles um sich herum ausblendete. Sie sah nur noch Vega und die beiden Helfer. Schließlich hielt Riccardo inne, den Blick starr auf Vega gerichtet. Das Blut pochte in Sarahs Ohren als sich der Junge schließlich umdrehte und den Kopf schüttelte. ,,Nein!", wisperte Anouk mit weit aufgerissenen Augen und fiel der Toten um den Hals. ,,NEIN!", kreischte sie und brach in heftiges Zittern aus und fing an zu weinen. Sarah hörte Hanna nachLuft schnappen und konnte spüren, wie sich auch ihre eigenen Augen mit Tränen füllten, sodass sie nur noch verschwommen sehen konnte. Sie fühlte wie das salzige Wasser ihre Wange hinunter rann und einen winzigen dunklen Fleck auf dem Dielenboden hinterließ. Das konnte nicht sein! Sie hatten hier schon so viele Gruppenmitglieder verloren und jetzt sollte auch noch Vega gehen? Das war einfach nicht fair. Sie hatte diese Höllenfahrt bis hierhin überlebt und sollte nun ausgerechnet durch eigene Hand sterben? Das war dann wohl Ironie des Schicksals und dabei hatte dieses ihnen allen schon so übel mitgespielt. Am schlimmsten hatte es nach wie vor die Toten erwischt, darüber war sich Sarah im Klaren. Aber ausgerechnet Vega? Sie war zwar alles andere als freundlich wenn sie mal schlechte Laune hatte, aber wen betraf das schon nicht? Das hier hatte sie eindeutig nicht verdient! ,,Die Guten sterben früh. Zu früh.", hauchte eine Stimme direkt neben dem Ohr des Mädchens. Es war Hanna, die sich die feuchten Augen wischte. Sarah hatte sie immer als sehr hübsch empfunden, aber jetzt sah sie so mitgenommen aus, wie noch nie. Ihre Augen waren eingesunken, von dicken Augenringen umrahmt, und voller Verzweiflung. Ihr glasiger Blick war auf eine Weise furchteinflößend, die Sarah nicht genau beschreiben konnte und ihre Lider waren gerötet. Es wirkte beinahe so, als wäre sie soeben verstorben, nicht Vega. Sie seufzte resigniert und strich sich eine Strähne braunblonden Haars aus dem Gesicht. ,,Ich kann immer noch nicht fassen, dass das hier wirklich passieren konnte.", meinte Hanna mit einem gequälten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Dann ließ sie den Kopf sinken und griff nach der Türklinke. ,,Wo willst du hin?",wunderte sich Sarah. Hanna drehte sich um. ,,Ich kann mir das hier nicht noch länger ansehen. Ich denke ich brauche ein wenig Zeit für mich allein.". Sarah nickte verständnisvoll. Zugegeben kostete es sie ebenfalls ziemlich viel Überwindungskraft in diesem Raum zu bleiben. Man könnte meinen, Sarah hätte sich inzwischen an den Anblick von Toten gewöhnt, so grausam das auch klang, aber Vegas Leiche war anders. Ihre Züge sahen einfach noch so lebendig aus. Aber das Blut, das unter ihr das Laken benetzte war eindeutig genug. Wer so viel Blut verlor, der konnte einfach nicht mehr am Leben sein. Sarah wollte sich einfach nicht eingestehen, dass Vega nun für immer verloren war, dass sie dieses Gesicht nie wieder sehen würde, ihr Lachen, ihre schokoladenbraunen Augen, ihr warmes Lächeln... Aber ob es ihr nun gefiel oder nicht, ändern konnte sie daran nichts. Das Mädchen spürte, wie ihre Trauer großer Wut wich. In den letzten Tagen hatte sie so viel Schmerz am eigenen Leib erfahren müssen, so viele Tränen vergossen und auf eine äußerst schmerzhafte Weise lernen müssen loszulassen. Erst verschwand der Junge, den sie liebte aus ihrem Leben, dann ein Kamerad, den sie sehr geschätzt hatte und schließlich eine unersetzbare Freundin, von der sie sich noch nicht einmal hatte verabschieden können. Ihre zitternden Hände ballten sich zu Fäusten. Das war alles seine Schuld! Sarah knirschte mit den Zähnen und versuchte ruhig zu bleiben, konnte es aber einfach nicht. Wer auch immer der Mörder war: Er hatte ihr die Chance auf eine glückliche Zukunft gestohlen und mit den Leben dieser Menschen gespielt, als wären sie wertlos. Sarah blickte zu Anouk, die noch immer neben Vega auf dem Bett saß und sich unter dem Schmerz einer unsichtbaren Wunde krümmte. ,,Wir sollten sie beerdigen.", schlug Riccardo vor. ,,Wie denn? Vorausgesetzt da draußen treibt wirklich ein irrer Killer sein Unwesen können wir da unmöglich raus um sie zu begraben." , gab Sarah zu bedenken. ,,Wir sollten ihr aber irgendwie gedenken. Als... Abschied.", Anouks Stimme versagte beim letzten Wort. Sie schien genau so wenig bereit zu sein für besagten Abschied, wie Sarah. ,,Riccardo kniete neben dem Bett nieder und legte dem Mädchen eine Hand auf die Schulter. Sein Blick war irgendwie mitleidig als er sagte: ,,Du kannst sie nicht für immer hier behalten. Du musst sie gehen lassen. Du kannst sie nicht zurückholen, indem du sie hier lässt. Ihr Körper wird verwesen. Bitte Anouk, lass los!". Sie schlug seine Hand weg und bebte unter dem Versuch nicht zu weinen. Sofort fügte Riccardo hinzu: ,,Aber wenn du willst, dann können wir eine Art Beerdigung hier im Haus organisieren, damit du dich verabschieden kannst." Anouk nickte und Riccardo reichte ihr ein Taschentuch, das sie dankbar annahm. Anouk stand auf und ging schnell in Richtung Tür, damit Sarah nicht bemerkte, dass sie erneut in Tränen ausbrach. Die hölzerne Tür fiel hinter ihr ins Schloss und es waren nur noch Riccardo und Sarah im Raum, beide den Blick auf Vegas Leichnam gerichtet. ,,Was machen wir mit ihrem Körper? Ich meine: Wenn wir sie hier verwesen lassen dann...". Sarah hatte das vor Anouk nicht ansprechen wollen aber auch jetzt wo sie weg war, war es ihr unangenehm. ,,Du hast recht. Wir sollten sie in in den Keller legen.", schlug Riccardo vor. Eine Leiche im Keller. Sarah war sich nicht sicher ob sie das wirklich wollte aber sie hatten keine Wahl. Andernfalls würde Vega vor ihren Augen verwesen und das wäre dann wohl das schlimmere Übel. ,,Wegen der Beerdigung von der Anouk gesprochen hat... Wir werden improvisieren müssen. Wir haben ja schließlich kein Bestattungsunternehmen, aber ich denke mal wir kriegen das hin. Es lässt sich bestimmt etwas passendes finden, etwas, das man als Sarg benutzen könnte und ich bin sicher für die anderen Kleinigkeiten gibt es auch eine Lösung. Wenn du willst kann ich mich um den Sarg kümmern.". Sarah nickte. ,,Ich übernehme den Rest.", bot sie an und Riccardo schien dankbar für die Hilfe. ,,Ich mache mich dann mal auf die Suche.". Und mit diesen Worten verließ der freiwillige Helfer das Zimmer und ließ Sarah mit der soeben Verstorbenen allein. ,,Wir sehen uns bei der Beerdigung. Du warst echt eine gute Freundin. Ich kann immernoch nicht fassen, dass du dir das selbst angetan hast und... ich wünschte ich hätte etwas dagegen tun können.".Dann schritt auch sie hinaus.
Es war Riccardo tatsächlich gelungen einen Ersatz für den Sarg aufzutreiben und auch Sarah hatte ein paar Kleinigkeiten finden können. So standen sie nun alle gemeinsam im Keller, vor einem improvisierten und in aller Eile zusammengeschusterten Altar. In der Mitte stand eine große Holzkiste, die mit mit Vegas Bettdecke gepolstert war. Darin befand sich Vega. Ihr Gesicht war blass und sie sah nun nicht mehr so lebendig aus, wie zuvor. Bedeckt war sie mit einem riesigen weißen Sweatshirt, da sie sie nicht mit dem blutbefleckten Lacken hatten zudecken wollen. Rechts und links von Vegas Sarg stand jeweils eine alte Weinkiste mit einer Kerze und Blumen darauf. Sie standen für Jan und Bela, die ebenfalls ein früher Tod ereilt hatte. Der Geruch von Schimmel und uraltem Kellergewölbe hing in der Luft und im Gegensatz zu einer echten Beisetzung trug keiner von ihnen etwas besonders elegantes oder anmutiges. Stattdessen standen sie alle in ausgeleierten Pullovern und Jogginghosen vor der Toten um ihr zu gedenken. Es war vielleicht keine allzu festliche Zeremonie, aber es reichte vollkommen aus. ,,Vielleicht sollten wir uns zusammen an den Küchentisch setzen und dann nacheinander einzeln runter gehen um ihr die letzte Ehre zu erweisen.". Alle nickten und bewegten sich mit schlurfendem Schritt die Treppe hinauf, nur Hanna blieb unten. ,,Ich würde gerne anfangen, vorausgesetzt natürlich es macht euch nichts aus.". Es kam kein Widerspruch, weshalb Hanna sich in Richtung Sarg zurück zog und Sarah mit der Gruppe in der Küche verschwand. Keiner sprach ein Wort, es herrschte wortwörtlich Totenstille. Ein jeder vermied es den anderen anzusehen und wenn dann doch mal Augenkontakt bestand, so wurde ein mitfühlendes Lächeln ausgetauscht und schnell wieder weggesehen. Nach guten fünf Minuten des geteilten Schweigens hörten sie Schritte auf der Treppe. Die Tür schwang auf und Hanna trat heraus und setzte sich auf einen freien Stuhl. Sie nickte zu Sarah, als Zeichen, sie solle als nächste das tote Mädchen aufsuchen. Sarah stand auf und begab sich in die Gruft. Es war nicht Sarahs größter Wunsch sich allein mit einer Leiche in einem dunklen Keller aufzuhalten, aber sie tat es Vega zuliebe. Sie öffnete die schwere Tür und gab den Blick auf die steinernen Stufen frei, deren Kanten von der häufigen Nutzung abgerundet waren. Die Treppe war so steil, dass sich Sarah am Geländer festhalten musste, um in dem fahlen Licht nicht zu fallen. Sie war heilfroh, als sie unten angekommen war. Dieser Keller machte ihr eine Gänsehaut und die Tatsache, dass ihre tote Freundin darin lag machte es nur noch schlimmer. Sie näherte sich der Holzkiste. Vegas Gesicht wirkte gespenstisch im Kerzenschein und der weiße Stoff, der sie umhüllte verstärkte die Illusion. Irgendjemand hatte ihr einen Kranz aus verwelkten Nelken, die mit Raureif überzogen waren, auf den Kopf gesetzt. ,,Geh nicht! Ich kann es nicht ertragen dich auch noch zu verlieren. Du fehlst mir. Wir brauchen dich hier oben! Es ist alles so schrecklich. Hier geht alles drunter und drüber und ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann.". Sarah brach ab. Es war vielleicht albern mit einer Toten zu reden aber vor allem war es verdammt gruselig. Sarah fühlte sich extrem unwohl in ihrer Haut und aus unerfindlichen Gründen beobachtet. Sie sah sich um, was jedoch so gut wie gar nichts brachte, da sie wegen des schwachen Lichts, das von den Kerzen geworfen wurde, nur gut zwei Meter weit sehen konnte, wenn nicht sogar weniger. Es sah ganz danach aus, als ob sie ihre Unterhaltung mit Vega früher abbrechen müsse, als erwartet. In diesem Keller wollte sie keine Sekunde länger bleiben. Mit schnellen Schritten hastete sie die Treppe hoch und ein Gefühl der Erleichterung breitete sich in dem Moment in ihr aus, als sie wieder in der Küche bei den anderen stand. Sarah nickte Riccardo zu, so wie Hanna es zuvor bei ihr getan hatte und der Junge verstand sofort. Nun machte auch er sich auf den Weg zu dem Grab. Sarah setzte sich zu den beiden Mädchen an den Tisch und versuchte das eben gesehene so gut es ging zu vergessen. Sie wollte nicht, dass dies ihre letzte Erinnerung an Vega war.
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The cabin
Misteri / ThrillerEine Gruppe von Jugendlichen, die sich über das Internet kennen gelernt haben, planen (um einander besser kennen zu lernen) einen zwei wöchigen Urlaub in einer abgelegen Berghütte. Doch als einer von ihnen stirbt wird, wird aus Spaß schnell blutiger...