Kämpfe oder stirb

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Bela saß zusammengekauert auf der Erde. Die Knie angewinkelt und die Beine mit den Armen umschlungen wippte er vor und zurück. Die Vorfälle der letzten Stunden hatten seinen Körper und Geist erheblich in Mitleidenschaft gezogen und er bekam deutlich zu spüren, wie diese Situation mehr und mehr an seiner Psyche nagte. Denn auch für das, was ein Mensch verkraften konnte gab es eine Belastbarkeits Grenze und Bela hatte sie eindeutig überschritten. In einem Wald neben einer Leiche aufzuwachen war eine Sache, aber wenn sich diese dann auch noch als ein ehemaliger Freund heraus stellte und man gezwungen war, von ihr zu essen um zu überleben, dann war das so ziemlich das schlimmste Schicksal, das einen ereilen konnte- aus Belas Sicht zumindest. Erst hatte er gar nicht gewusst was überhaupt los war, geschweige denn wer er war und wie er an diesen Ort gelangen konnte. Als er dann auch noch einen toten Körper neben sich aufgefunden hatte, war er noch verängstigter gewesen. Im Nachhinein fragte er sich, weshalb er nicht sofort weggelaufen war, aber dazu war er zu diesem Zeitpunkt nicht im Stande gewesen. Stattdessen hatte er starr da gesessen und angsterfüllt in die bleichen Pupillen der Person gestarrt und hatte sich in diesem Moment so unsicher gefühlt, wie noch nie. Irgendwann, als sein Gehirn wieder zu arbeiten begonnen hatte, hatte er es dann schließlich begriffen: Dass es gefährlich hier sein könnte, dass es sich hier wahrscheinlich um einen Mord handelte und dass auch er vermutlich eines der Opfer war, den Angriff jedoch irgendwie überlebt hatte. Er war ein paar Schritte zurück getaumelt, als er bemerkt hatte, dass er wahrscheinlich in großer Gefahr schwebte. Seine Beine hatten sich schwach angefühlt, taub durch die Kälte des Schnees und den Schock, welcher in großen Wellen über den Jungen hereinbrach. Aber trotzdem war er dann endlich gerannt, so schnell wie er nur konnte und möglichst weit weg von diesem schrecklichen Ort. Der Schnee hatte seine Beine verschluckt wie gierige Mäuler und Belas Füße waren in ihm versunken, wie in einem Moor. Aber trotzdem war er weiter gerannt, vorbei an kahlen Bäumen, verschneiten Tannen und hinweg über die ebene weiße Fläche, die sich unter ihm durch das gesamte Waldgebiet zog, wie ein großer Teppich. Der Wind hatte ihm gewaltige Schneeflocken und Eiskristalle ins Gesicht geweht, hatte ihm das Vorankommen nur noch mehr erschwert, aber Bela hatte nicht aufgegeben. Er war weiter durch den ihm unbekannten Wald gesprintet, der auf ihn wirkte, wie ein einziges gigantisches Labyrinth. Seine Beine hatten sich wie von selbst bewegt. Er wusste nicht wann es passierte, er wusste noch nicht einmal wie lange er gerannt war, aber während des Laufens waren seine Erinnerungen Stück für Stück wieder gekommen. Mein Name ist Bela. Das war das erste, woran der Junge sich hatte erinnern können. Dann war ihm aufgefallen, dass ihm dieser andere Kerl, der da tot neben ihm auf der Erde gelegen hatte unheimlich bekannt vorkam. Was war noch gleich sein Name? Jack oder Jakob oder so etwas in der Art...Jan, so hiess er! ,war es Bela wieder eingefallen. Aber weshalb war Jan tot? Und woher kannten sich die beiden Jungen überhaupt? Bela hatte lange überlegte, aber er war nicht im Stande gewesen die vorherigen Ereignisse zu rekonstruieren. Alles, was er gesehen hatte, waren Bilder in seinem Kopf, die ihn heimzusuchen schienen. Er war stehen geblieben und auf die Knie gefallen, die Hände an seine Schläfen gepresst. Er hatte Kopfschmerzen bekommen von seinen Versuchen, die verloren gegangenen Erinnerungen neu aufzubauen. Trotzdem hatte er es getan. Das ganze schien ihm so wichtig, dass es die Anstrengungen wert war. Die Bilder, die in Belas Kopf umher schwirrten waren klarer geworden. Dort war das Bild einer relativ großen Hütte gewesen, ganz aus Holz gebaut und umgeben von fallendem Schnee. Im Hintergrund konnte man eine Bergkette ausmachen, die sich durch weite Teile der Landschaft zog. Etwa hundert Meter von dem Gebäude entfernt, erstreckte sich ein Wald. Bela war sich ziemlich sicher, dass es sich um jenen Wald handelte, in dem er gerade umher irrte. Er hatte vor Unmut geschluckt. So wie es aussah, war der Wald riesig. Sollte er nach dieser Hütte suchen? Konnte er dort Schutz finden? Ein weiteres Bild war aufgeflackert. Dieses mal war es ein, mit Blut bespritztes, Messer gewesen, welches in einer Schublade lag. Das seltsame war, dass etwas mit diesem Messer nicht stimmte. Obwohl Bela ganz klar wusste, dass etwas an diesem Gegenstand nicht ins Bild passte, hatte er nicht ausmachen können, was es war. Bevor der Junge sich den Kopf darüber hatte zerbrechen können, hatte er eine weitere Erscheinung vor seinem inneren Auge gesehen. Es war ein Mädchen gewesen, ein sehr hübsches Mädchen sogar, das auf einem Sofa saß. Sie hatte rotes schulterlanges Haar, das warm im Licht des Kamins, der im Hintergrund brannte, funkelte. Ihre kristallblauen Augen waren freundlich, genau wie ihr Lächeln. Ob das eine Freundin von ihm war? Ob das vielleicht sogar seine feste Freundin war? Normalerweise hätte er sich diesen Überlegungen mit Freude hingegeben, aber in diesem Moment war ihm nicht dazu zumute gewesen. Er hatte sich auf den Raum konzentriert, in dem sich besagtes Mädchen befand. War das wohlmöglich das Innere des Hauses, das er gesehen hatte? Hatte er mit ihr einen Ausflug zu dieser Hütte unternommen? Aber was war passiert? Wie hätte eine so friedliche Situation einen derartig drastischen Ausgang nehmen können? Bela konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen und ehrlich gesagt wollte er es auch nicht. Das folgende Bild hatte ihn schockiert. Bela lag auf einem Holzboden und sah eine Lache tiefroten Blutes, die sich um ihn herum ausbreitete und überall lagen Scherben verstreut. Vor dem Jungen stand eine Person, aber Bela war unfähig zu erkennen, wer es war, da er nur den Fuß und einen geringen Teil des Schienenbeins sehen konnte. War das sein Tod? Oder viel mehr sein Beinahe-Tod? So unwahrscheinlich war das gar nicht. Es deutete alles darauf hin, was Bela Angst machte. Die Frage, die sich Bela jedoch am meisten aufgedrängt hatte war: Wer war der Mörder? Er hatte überlegt. Angesichts der soeben errungenen Erkenntnisse hatte Bela es vorgezogen, nicht nach der Hütte zu suchen. Vielleicht war der Mörder nach wie vor dort. Plötzlich war ein gestochen scharfer Schmerz durch den Hinterkopf des Jungen gejagt. Vorsichtig hatte er ihn betastet und gespürt, wie seine Finger über eine erschreckend große Wunde glitten. An der Stelle, wo die Verletzung saß, war Belas Kopf geschwollen und er fühlte die Ansätze einer Kruste. In seinen Haaren klebte kristallisiertes Blut, das von der Wunde ausging. Es wirkte so, als sei ihm der Hinterkopf aufgeschlagen worden und das ganze hätte sich im Anschluss böse entzündet. Wahrscheinlich war das auch der Auslöser für seine Kopfschmerzen gewesen. Erst nach und nach hatte sich dem Jungen der kritische Zustand seines Körpers bemerkbar gemacht. Zuvor war er viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen um dieser Tatsache Beachtung zu schenken, aber jetzt hatte sich das schlagartig geändert. Bela war unglaublich kalt, er begann am ganzen Körper zu zittern. Die Kraft verließ seine Beine während der Schmerz unerträglich durch seinen Hinterkopf pochte. Ihm war mehr denn je bewusst geworden, dass seine Chancen hier draußen zu überleben mehr als nur schlecht standen. Wasser stand ihm durch den Schnee zur Verfügung, nur mit der Nahrung würde es schwierig werden. Er hatte sich umgesehen. Nichts. Nur kahle Sträucher und Bäume. Es war kein Essen in Aussicht. Und selbst wenn die Umstände es ihm erlaubt hätten, zur Hütte zurück zu kehren, so hatte er doch nach wie vor nicht die geringste Ahnung, wo sich diese befand. Dieser Wald musste riesig sein. Alles hier sah gleich aus. Bela hatte seine geröteten Augen zusammen gekniffen. Vor ihm hatte in weiter Ferne eine Art Lichtung gelegen. Er hatte sich aufgerichtet, war mit seinen tauben Beinen hilflos darauf zu gestolpert, obwohl er sich dem Platz keinen Schritt zu nähern schien. Aber er hatte durchgehalten. So lange, bis er nur noch wenige Meter von seinem Ziel entfernt gewesen war. Keuchend vor Anstrengung war er stehen geblieben und hatte wider Erwartens festgestellt, dass es sich nicht etwa um eine Lichtung gehandelt hatte, wie er geglaubt hatte, sondern um einen See von unglaublicher Größe. Die Ränder waren von dicken Eisplatten überzogen und in der Mitte tanzte eine Wucht dunkel blauen Wassers im Wind und schlug gegen das Eis. Von hier aus hatte man freien Blick auf die, in der Ferne liegenden, Ufer, an denen sich Tannenbäume reihten. Bela hatte den Kopf in den Nacken geworfen und düstere Wolken über seinen Kopf hinweg ziehen sehen. Er hatte sich auf einen eiskalten Stein gesetzt und auf den See gesehen, der sich vor seinen Füßen erstreckte. Ob es dort wohl Fische gab, von denen er sich ernähren konnte? Schnell hatte er diesen unrealistischen Gedanken beiseite geschoben. Als ob er auch nur ansatzweise das Geschick besäße, diese Tiere zu fangen. Außerdem liefe er allein bei dem Versuch Gefahr in den See zu fallen und zu erfrieren. Also ließ er es lieber bleiben und besann sich eines Besseren. Bela hatte bemerkt, dass er großen Durst hatte und sich eine Hand voll Schnee genommen und davon gegessen. Dieser hatte sich kalt in seinem Mund angefühlt und Belas Zähne waren für einen Moment wie Eiszapfen.

Der Tag neigte sich dem Ende und der Junge hatte gemerkt, dass es immer kälter wurde. Er hatte zu seinen Fußspuren gesehen, die mehr und mehr im Schnee zu verschwinden drohten. Mit ihrer Hilfe könnte er zu Jan gehen. Der hatte doch zusätzliche Kleidung, die Bela helfen konnte sich warm zu halten. Aber er müsste sich beeilen, andernfalls würden die Spuren verschwinden und er hätte keine Chance den Weg zu finden. Bela hatte sich erhoben und war seinen eigenen Fußstapfen gefolgt. Er war mittlerweile etwas durch seine Ruhepause gestärkt gewesen, aber das Laufen hatte ihn trotzdem angestrengt. Es war schon fast dunkel gewesen, als er Jan erreicht hatte. Ein paar Krähen hatten auf seinem Gesicht herumgehackt. Bela war wütend geworden und hatte sie mit den Händen fuchtelnd und zischend davon gescheucht. Er hatte Jan seine Kleidung abgenommen und wollte gerade wieder gehen, als sein Magen zu knurren begonnen hatte. Und dann war es passiert. Ein unkontrollierbarer Drang des Überlebens war in dem Jungen aufgestiegen- das Verlangen nach Nahrung, zur Not auch menschlichem Fleisch. Hungrig hatte er sich auf den toten Körper des Jungen gestürzt und seine Zähne gierig in dessen Unterarm geschlagen. Er hatte eine Weile gebraucht bis sein Gebiss die zähe Haut durchdringen konnte, dann hatte es auch für ihn kein Halten mehr gegeben. Er hatte große Stücke Muskelgewebe aus dem Arm des Jungen gerissen. Blut war auf seine Wangen gespritzt und aus seinem Mund getrieft. Auf alle Viere gestützt hatte er auf dem rohen Fleisch herum gekaut. Er hatte einen weiteren Bissen genommen, die Leiche immer weiter entstellt. Es wurde sogar schon der blanke Unterarmknochen sichtbar, freigelegt durch Belas unermüdlichen Hunger und Blutdurst. Dann hatte er inne gehalten, den Körper angestarrt und das eine ganze Weile lang. Plötzlich hatte er zu realisieren begonnen, was er gerade getan hatte, dass er soeben seinen Freund gegessen hatte. Er hatte sich über die, mit Blut benetzten, Lippen gewischt und paralysiert auf seinen Handrücken gestarrt. Er wollte schreien, all das Leid loswerden, doch er hatte es einfach nicht gekonnt. Er konnte nicht begreifen, was gerade mit ihm geschehen war, zu was er geworden war. Er kannte Fälle von Menschen, die in Extremsituationen ungeahnte Kräfte bekamen, die ganze Autos stemmen konnten, nur weil sich ihr Kind darunter befand. Aber alles was Bela konnte war, sich in ein Monster zu verwandeln. Er hatte den Anblick der Leiche nicht ertragen können. Er erinnerte ihn an seine grausame Tat. Unter Kraftaufwand hatte er den toten Körper in ein benachbartes Gebüsch geschleift, ein Gewirr aus Zweigen und Dornen. Nach vollbrachter Tat ließ er sich auf den Boden fallen, umschlung seine angewinkelten Beine mit den Armen und begann auf und ab zu wippen. Auch für das, was ein Mensch verkraften konnte, gab es eine Belastbarkeitsgrenze...

The cabinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt