Der Wolf im Schafspelz

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Wie in Zeitlupe schwang die Tür vor Sarahs Augen auf und gab den Blick auf die verschneite Berglandschaft frei. Erst zögerte sie, doch dann machte sie einen Schritt nach vorn und ihre nackten Füße berührten den eiskalten Schnee. Sie warf noch einen letzten Blick zurück auf die Hütte. Ihr Blick festigte sich und richtete sich wieder nach vorne während pure Entschlossenheit ihren Körper und Geist mit enormer Kraft durchflutete. Dann fing sie an zu rennen, Schnee wirbelte rings um sie herum auf während sie ihre Schritte mehr und mehr beschleunigte. Ihre Fußsohlen flogen über die weisse Oberfläche während von Flocken bedeckte Tannenbäume an ihr vorbei zogen. Sarah wusste nicht wie lange es bereits her war, dass sie so schnell gerannt war, dass sie überhaupt gerannt war und nicht in Angst um ihr eigenes Leben in einer Hütte zusammengekauert herumsaß. Eine gewaltige Erleichterung machte sich in Sarah breit. Seit langem fühlte sich das Mädchen wieder frei. Mit nun geschlossenen Augen rannte sie weiter und ließ die kühle erfrischende Bergluft ihre Lungen durchfluten. Plötzlich bemerkte sie, wie mit jedem Schritt der Boden mehr und mehr unter ihren Füßen schwand und riss erstaunt die Augen auf. Den Blick auf ihre Füße gerichtet, während die Distanz zwischen dem Erdboden und diesen wuchs spürte Sarah, wie Flügel aus ihren Schultern sprossen und sie sich mit diesen in die Luft schwang. Sie kam den Wolken immer näher und ein riesiges Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Das Haus, mit welchem sie so viele traumatische Erinnerungen verband war nur noch ein winziger brauner Punkt der bald hinter dem Horizont verschwand, der sich hinter ihr erstreckte. ,,Sarah!", rief eine wohl bekannte Stimme. Sie drehte den Kopf und sah Riccardo, der ebenfalls im Besitz gigantischer Flügel war und neben ihr Flog. Sie lächelte ihm zu, doch sein Blick war Todernst. Er flog näher an sie heran bis er unmittelbar neben ihr war und begann an ihren Schultern zu rütteln. Sarah verlor das Gleichgewicht in der Luft. Wegen Riccardo würden sie noch alle beide abstürzen! ,,Sarah, du musst aufwachen!",rief Riccardo, während er und das Mädchen dem Boden immer näher kamen. Riccardo riss den Mund auf: ,,Sarah, es ist wichtig!". Plötzlich schlug Sarah ihre kristallblauen Augen auf und starrte direkt in Riccardos von Verzweiflung gezeichnetes Gesicht. ,,Schnell, zieh dich an! Nimm deine Sachen, wir müssen hier weg!", drängte er während er energisch an Sarahs Arm zog. Diese befreite sich schnell aus seinem Klammer Griff und sah ihn verwirrt an. ,,Riccardo, komm runter und beruhig dich erst ein mal! Was ist passiert?". Riccardo, der in voller Montur mit Jacke, Schal und Mütze vor ihr Stand presste nur einen Finger auf die Lippen und flüsterte: ,,Nicht so laut!", während er Sarahs Schrank öffnete und begann darin herum zu wühlen. ,,Riccardo?", fragte Sarah als er ihr einen Pulli und ihre Daunenjacke zuwarf. ,,Riccardo, ich gehe nirgendwo hin solange du mir nicht auf der Stelle sagst was hier überhaupt los ist! Warum zur Hölle benimmst du dich so merkwürdig? ". Riccardo stieß einen laut der Verzweiflung und unterdrückter Wut aus, bevor er sich zu seiner Gesprächspartnerin umdrehte, sie eindringlich ansah und beide Hände auf ihren Schultern platzierte. Sarah war wirklich gespannt was jetzt wohl kommen würde, welche Erklärung der Junge wohl dafür parat haben mochte. ,,Es sieht ganz so aus, als wäre jemand in diesem Haus nicht ganz wer er vorgibt zu sein. Ich kann dir das jetzt hier auf die Schnelle nicht erklären, das würde zu lange dauern und wir haben nicht mehr viel Zeit! Du musst nur wissen, dass du in großer Gefahr bist! Größer als du jetzt im Moment vielleicht denkst. Darum müssen wir so schnell es geht von hier verschwinden! Und jetzt beeil dich und zieh deine Klamotten an, mach schon!". Mit einer zitternden Hand griff Sarah nach dem Pullover, der vor ihr auf dem Bett lag und streifte ihn über. Riccardo machte ihr enorme Angst, oder viel mehr das, was er so fürchtete. Was konnte einen jungen Mann wie ihn so verschrecken, dass er so reagierte? Riccardo warf ihr eine Hose zu und streifte auf der Suche nach anderen Dingen die sie brauchen würden durch Sarahs Zimmer. In Eile griff er nach dem Rucksack, der in der Ecke lag und entleerte den Inhalt auf dem hölzernen Schreibtisch bevor er Handy, Portemonnaie, Autoschlüssel und andere essentielle Dinge an deren Stelle in das Gepäckstück zu stopfen begann. Mit einer schnellen Bewegung schwang er sich den Rucksack über die Schulter und ging in Richtung Tür. Davor blieb er noch vor Sarahs Bett stehen. ,,Zieh dich fertig an und guck, ob du noch irgendetwas brauchst, so schnell wie möglich. Ich sage in der Zwischenzeit den anderen bescheid.". Mit diesen Worten öffnete er die Tür und verließ den Raum. Für einen Moment saß Sarah nur geschockt und regungslos da, gelähmt von der Flut an Ereignissen die sie verarbeiten musste. Warum meinte Riccardo, sie sei in großer Gefahr und von wem ging diese Gefahr aus? Laut seinen Worten war es tatsächlich jemand aus der Gruppe, jemand aus den eigenen Reihen. Das, was sie sich die ganze Zeit über zu glauben geweigert hatten war eingetreten, ihre schlimmste Befürchtung war letztendlich wahr geworden. Ein ekelhaftes und beunruhigendes Gefühl kam in Sarah auf. Sie hatte diesen Leuten vertraut, jedem einzelnen von ihnen. Wer von ihnen war der Verräter? Wer von ihnen hatte zwei Menschen auf dem Gewissen und was zur Hölle hatte sie dazu veranlasst das zu tun? Mit einem Mal wurde das Mädchen wütend. Welches Monster würde so etwas tun? Den Jungen umbringen, den sie geliebt hatte und es immer noch tat. Wer auch immer dieses Arschloch war, sie wollte nichts lieber als ihn tot sehen. Am besten bevor dieser Jemand sie erwischte. Und auch wenn all die Wut, die sich in ihr anstaute von enormen Ausmaß war, so wäre sie letzten Endes doch nicht fähig jemanden umzubringen. Und wie sich später noch herausstellen sollte, konnte ihr das sehr bald zum Verhängnis werden...

The cabinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt