Die grausame Wahrheit

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Anouks kalte Finger umklammerten krampfhaft den blauen Plastikgriff der Taschenlampe. Der Wind wehte ihr einzelne Strähnen ihres braunen Haars ins Gesicht und auf ihren geröteten Wangen fühlte sie kleine Schneeflocken schmelzen. Sie richtete ihren Blick in Richtung Himmel, der eine einzige dunkelgraue Wolkenmasse war. Zwar schien der Mond, doch die dichten Baumkronen hielten ihn davon ab, mit seinem silbernen Licht auch den Wald zu durchfluten. Es war stockfinster. Anouk war nicht gerade ängstlich, aber die Vorstellung in einem Wald auf Geisterjagd zu gehen sagte ihr nicht gerade zu. Genau genommen suchte sie ja noch nicht einmal nach Geistern, sondern den Körpern der Verstorbenen- den Leichen von Bela und Jan. Als sie noch in ihrem Zimmer gesessen und den Plan ausgetüftelt hatte, hatte er todsicher gewirkt, aber jetzt, wo sie von der Theorie in die Praxis übergegangen war, war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Ganz im Gegenteil, ihr Vorhaben wirkte mit einem mal wie eine komplett bescheuerte Idee. Wie war sie nur auf den Gedanken gekommen allein und bei Nacht zu gehen? Nun gut, das war vielleicht einerseits vorteilhaft, da so keinem ihr Fehlen auffallen würde aber andererseits auch unglaublich unheimlich. Zudem kursierte das Gerücht von einem Mörder, der in den Wäldern herum streifte. Das war vielleicht mehr als nur beunruhigend aber Anouk schenkte dieser Theorie keinerlei Glauben. Stattdessen zog sie etwas anderes in Betracht, was in ihren Augen noch viel beunruhigender war. Sie war der festen Überzeugung, dass jemand aus der Hütte für die Morde verantwortlich war und das war es, was ihr wirklich zu denken gab. Sie hatte sogar schon auf eigene Faust Versuche gestartet den Mörder zu ermitteln, war jedoch nicht weit gekommen bei ihrer Suche. Jeder war verdächtig und das Mädchen hatte nicht lange gebraucht um herauszufinden, dass sie auf diese Weise niemals zu einem Ergebnis gelangen würde. Aufzugeben kam ihr trotzdem nicht in den Sinn, ihr Leben hing immerhin mit größter Wahrscheinlichkeit davon ab. Und das war auch der Grund, weshalb sie mitten in der Nacht durch einen Wald lief und nach Leichen Ausschau hielt. Bei jedem Schritt den Anouk tat ,knackte das unter dem Schnee begrabene Geäst und jedes mal erschreckte sie sich aufs neue. Sie hätte nicht gedacht, dass sich allein das erneute aufsuchen des Fundorts der zwei Leichen als derartig schwierig herausstellen würde. Außerdem musste sie rechtzeitig in die Hütte zurück, damit sich die Anderen sich keine Sorgen machten oder sie gar verdächtigten etwas im Schilde zu führen. Hinter Anouks Rücken verschwand die Hütte immer weiter in der Ferne. Sie konnte diese schon längst nicht mehr sehen, ahnte nur wie ihr das alte Haus aus dunklen Fenstern hinterher starrte. Sie leuchtete mit dem Strahl ihrer Taschenlampe auf ein knochiges Gebüsch und bekam fast einen Herzinfarkt, als eine Gruppe von Krähen mit kräftigen Flügelschlägen daraus empor stieg und einen Regen aus schwarzen Federn auf das Mädchen herab fallen ließen, bevor sie mit dem düsteren Himmel verschmolzen. Auf einmal schoss es Anouk durch den Kopf: Waren Krähen nicht Aasfresser? Anouk wollte nicht wirklich wissen, was sie da verspeist hatten, deshalb blieb sie eine Weile einfach unschlüssig in der Dunkelheit stehen und sah ihrem Atem zu, der kleine weiße Wolken in der Luft bildete, bevor er sich auflöste. Sie wusste nicht wie viel Zeit verstrich, ob es fünf Minuten waren oder zwanzig in denen sie bewegungslos verharrte und nichts tat. Noch konnte sie umkehren. Noch konnte ihr der fürchterliche Anblick erspart bleiben. Aber sie hatte sich nicht ihren Weg bis hier hin erkämpft, um so kurz vor dem Ziel wieder umzukehren. Anouk nahm all ihren Mut zusammen und trat auf das Gebüsch zu. Eine Welle üblen Gestanks schlug ihr ins Gesicht und ihr wurde schlecht, sodass sie sich wegdrehen musste, um nicht zu erbrechen. Es roch extrem nach Verwesung und das war das schlimmste, was das Mädchen jemals gerochen hatte. Sie zog sich ihren Schal über die Nase und Band ihn an ihrem Hinterkopf zu einem Knoten zusammen. Dadurch verschwand der Gestank zwar nicht, wurde aber leicht gedämpft. Immer noch mit Übelkeit kämpfend schob Anouk die dornigen Zweige des Buschs zur Seite, von denen einige teilweise mit einer blutigen Schicht überzogen waren. Der Anblick, der sich ihr bot war das grausamste, was sie jemals zu Gesicht bekommen hatte. So schlimm, dass sie es dieses mal nicht aushielt. Sie taumelte rückwärts, riss sich den Mundschutz vom Gesicht, fiel auf die Knie und übergab sich neben einer großen Tanne in den Schnee. Das war eindeutig zu viel, selbst für sie. Ihr ganzer Körper war bedeckt von einer Gänsehaut und das nicht wegen der eisigen Temperaturen. Sie sah hinunter auf ihre zitternden Beine. Sie hatte eigentlich kein Problem mit brutalen Bildern, sie liebte Splatter Filme über alles, aber es war ein deutlicher Unterschied, ob so ein Bild über den Bildschirm flackerte, oder ob man so etwas im echten Leben sah. Anouk hatte sich gewünscht diese Erfahrung nie am eigenen Leib machen zu müssen und dazu nun doch gezwungen zu sein machte ihr mehr zu schaffen, als sie angenommen hatte. Aber da musste sie jetzt durch, so grausam das auch war. Sie wartete einen Moment, bis sie sich wieder so gut es ging beruhigt hatte. Mit wackligen Schritten schwankte sie zur Leiche hin und musterte sie erneut, was sie unglaublich viel Überwindung kostete. Der gesamte Körper war entstellt, das Gesicht kaum noch zu erkennen. Die Nasenspitze war zerhackt von hungrigen Krähen Schnäbeln, seine Augen ebenso. Von einem Großteil seines Fleisches hatten größere Raubtiere gezehrt, es waren deutlich Bissspuren zu erkennen, die wie die von Wölfen aussahen. Seine Haut war bleich, schon fast weiß und seine Adern traten lila hervor. Kleine Eiskristalle glitzerten in seinen Haaren. Anouk stand einfach nur da wie angewurzelt und gab ihr Bestes, sich an den Anblick zu gewöhnen. Sie musste ganz sachlich an die Sache herangehen, so wie sie es gewohnt war, so wie sie es immer tat. Allerdings war das alles andere als einfach, denn sie sah unaufhörlich Jans Gesicht vor sich, wie es einmal ausgesehen hatte, wie es sie angelächelt hatte, so voller Freude und erfüllt von Glück und Zuversicht. Aber alles was dieses Gesicht jetzt ausstrahlte war Entsetzen. Es war nichts weiter als eine abstrakte Maske, ein Ebenbild aller Angst, Furcht und Brutalität selbst, die sich nun in dem toten Jungen widerspiegelte. Anouk riss sich zusammen. Sie musste sich auf die Fakten konzentrieren, Anomalien aufspüren und ihre Emotionen aus dem Spiel lassen. Sie stellte sich vor, als Gerichtsmedizinerin zu arbeiten und sich jeden Tag dem Anblick mehrerer Leichen stellen zu müssen, oftmals noch übler zugerichtet. Aber diese Menschen, die vor ihr auf dem kalten Metall des Obduktionstisches lagen, kannte sie nicht. Anouk hatte keine persönliche Verbindung zu ihnen. Bei Jan war das anders. Selbst als Gerichtsmedizinerin wäre ihr da alles andere als wohl. Mit einem flauen Gefühl im Magen unterzog Anouk den toten Körper näheren Untersuchungen und kam sich dabei irgendwie herzlos vor. Sie wollte Jan nicht als Objekt betrachten, das es zu analysieren galt, aber das war die einzige Möglichkeit die ihr blieb, wenn sie das hier zu Ende bringen wollte. Immerhin war sie nur hier her gekommen, um Hinweise auf die Todesursache der beiden Opfer zu finden. Auf einmal fiel Anouk auf, dass Jan keine Kleidung trug, sondern komplett ungeschützt im Schnee lag. Wie hatte sie das nur übersehen können? Sie hatte Jans Leiche zwar nur kurz gesehen, aber sie war sich sehr sicher, dass er bekleidet gewesen war, als Sarah ihn gefunden hatte. Aber warum war er es jetzt nicht mehr? Je länger sie das bizarre Bild, das sich ihr bot betrachtete, desto mehr stieg die Anzahl an Ungereimtheiten, die sie bemerkte in die Höhe. Weshalb lag Jan in diesem Gebüsch? Hatte er nicht außerhalb davon gelegen, als sie ihn entdeckt hatten? Wenn allein Jans Leiche so viele Fragen aufwarf, was mochte sie dann in Belas Fall erwarten? Bela hatte ein paar Meter von Jan entfernt gelegen und Anouk fing an sich zu fragen, ob auch er in ein Gebüsch geschleift wurde. Aber sie musste erst die Inspektion von Jans Körper zu Ende führen, bevor sie die von Bela anfing. Es dauerte nicht lange, da stiess sie auf eine Schnittwunde an seiner linken Halsseite. Der Schnitt war nicht besonders groß, dafür aber sehr tief. War das die Todesursache? Es sah ganz danach aus. Wenn ja, dann war er an seinem eigenen Blut erstickt- ein qualvoller und grausamer Tod. Anouk suchte Jans Körper nach weiteren Informationen ab und ihr Blick blieb an seinem Unterarm hängen. Auch hier war etwas Fleisch bereits dem Verzehr verfallen, die Stelle war aber im Vergleich zu den anderen relativ unversehrt. Sie kniff die Augen zusammen und wurde stutzig. Das konnte einfach nicht sein! Wie kam DAS denn da hin? Sie sah genauer hin, beleuchtete die Stelle mit ihrer Taschenlampe, doch es bestand kein Zweifel. Ein Schauer lief dem Mädchen über den Rücken, wie eiskalte knochige Finger, die sich ihr Rückgrat hinauf stahlen, als sie den menschlichen Zahnabdruck näher betrachtete, der tief in das Fleisch gegraben war.

The cabinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt