Eine heile Welt hatte es noch nie gegeben. Darüber war sich Anouk schon im klaren gewesen, seit sie denken konnte. Es gab immer irgend einen Idioten, der meinte, Gott spielen zu müssen oder aus irgendwelchen anderen Gründen den Wunsch nach Idylle und Frieden zur Unmöglichkeit machte. Die Frage, die sich alle nun voller Furcht stellten war, wer besagte Person war.
,,Ich glaube es könnte Frau Önalan gewesen sein. Ihr wisst schon, die gruselige Dame von der Tankstelle."
,,Oder Frau Horstmann. Die war einfach viel zu nett, da muss doch was faul sein."
Anouk seufzte.
,,Leute, so kommen wir doch nicht weiter. Es könnte im Grunde jeder gewesen sein, sogar einer von uns!", verkündete sie und sprach somit die schlimmste Befürchtung aus, die sie zwar alle hegten, allerdings keiner wahr haben wollte. Eine Stimmung kalt wie Eis machte sich in der Gruppe breit. Alles schwieg, bis das Geräusch von Stuhlbeinen, die über den Boden kratzten die Stille durchbrach und Hanna sich mitsamt ihrem Teller aufrichtete:
,,Das ist doch komplett bescheuert. Ich für meinen Teil habe keinen Bock auf eure behinderten Verschwörungstheorien und schon gar nicht auf diese Panikmache beim Frühstück. Wisst ihr was? Ich esse oben!" Und mit diesen Worten verschwand sie die Treppe hinauf und nur wenig später hörte man eine Tür zuknallen. ,,Was geht denn mit der falsch? Hat die sich etwa indirekt beschuldigt gefühlt, oder was? Wenn ja, dann hat die sicherlich was zu verbergen." Sarah schien Hanna nicht sonderlich viel zu vertrauen wofür sie sich reichlich Missbilligung und einen Blick so kalt wie Eis von Vega einhandelte: ,,Meine Güte, jetzt lass sie doch einfach! Sie macht gerade schwere Zeiten durch, so wie wir alle hier! Und da bringt es absolut nichts sich gegenseitig die Schuld für den schrecklichen Vorfall zu geben, statt einfach einen kühlen Kopf zu bewahren und nicht den Mörder in unseren Nächsten zu sehen.". ,,Ich stimme ihr zu.", kam es plötzlich vom Kopfende des Tisches, wo Riccardo seinen Platz hatte. ,,Ich denke, Vega hat recht. Mit Paranoia kommen wir hier wirklich nicht weiter. Was wir jetzt tun sollten ist, die Augen offen zu halten und stets wachsam zu bleiben. Solange wir das beherzigen schaffen wir es vielleicht hier raus und das ohne weitere Verluste." Ein triumphierendes Lächeln schlich sich auf die Gesichter der Beiden und für einen Moment hätte sich Anouk beinahe von ihrer Euphorie mitreißen lassen. Sie kamen sich nicht mehr vor wie die Gejagten, die Angsthasen, die Hilflosen, die Verlierer. Nein, sie waren Kämpfer, Gewinner und protzten vor Stärke. Sie waren die Helden der Geschichte. Und wenn sie nur an sich selbst glaubten, dann konnten sie auch als solche diesen elendigen Ort verlassen. Sie waren nicht die Schwächlinge, denn sie hatten überlebt und genau das machte sie zuversichtlich, es hier raus schaffen zu können. Anouks grüne Augen wurden größer bei dem Gedanken, dieses Kaff zu verlassen und gesund und wohlbehalten heimzukehren. Aber dann holte sie die Realität ein und ihr fiel auf, wie verträumt sie doch im Grunde waren. So würde das niemals klappen. Anouks Miene verfinsterte sich und alle Sorgen kamen wieder in ihr hoch. Sie hätte doch so gerne daran geglaubt: An diese primitive kleine Welt, in der es zu jedem Problem eine einfache Lösung gab. Dass es sie noch nicht erwischt hatte war pures Glück, worauf sie sich nun wirklich nichts einbilden sollten, allein um die beiden verstorbenen Jungen zu ehren, ihnen ein letztes Zeichen des Respekts zu setzen. Es waren ja noch nicht einmal die genauen Umstände ihres Todes bekannt und angesichts dieser Tatsache war es durchaus möglich, dass sie gestorben waren, um Schutz für sie alle zu bieten. Gäbe es doch nur einen Weg all das herauszufinden. Wären sie besser informiert über das, was passiert war, so könnten sie sich vermutlich besser vor dem schützen, was in Zukunft noch kommen und geschehen konnte. Aber wie sollten sie bitte an Informationen kommen, wenn sie nicht aus der Hütte gehen durften. Auf der einen Seite sicherte es sie zwar ab, andererseits jedoch hinderte es sie daran, Fortschritte bei ihren 'Ermittlungen' zu machen. Erst jetzt bemerkte Anouk den mitleidigen Blick, den Sarah ihr über die neu gewonnene und ziemlich deprimierende Erkenntnis zuwarf. Sie schien auf eine merkwürdige Art und Weise genau zu wissen, was Anouk dachte und irgendwie behagte ihr das gar nicht. Sarah brachte ein müdes Lächeln zu Stande bevor sie sich wieder abwandte und somit ihre Aufmerksamkeit auf Vega und Riccardo richtete. Anouk folgte ihrem Beispiel, doch etwas stimmte nicht. Etwas mit Vega, die vorhin noch vollkommen überzeugt und hoffnungsvoll gewirkt hatte. Es schien fast so, als bröckelte ihre Fassade und so wie es aussah war nicht mehr viel davon übrig. Zwar grinste sie noch immer, aber Anouk spürte deutlich eine gewisse Unsicherheit in ihren glasigen Augen und sie wirkte nervös. Sie machte solch einen elenden Eindruck, dass Anouk sich zu fragen begann, ob sie jemals irgendetwas von dem eben gesagten wirklich gedacht hatte, oder ob es sich bloß um leeres Gerede gehandelt hatte, um Vegas eigene Unsicherheit zu überspielen. Sie wirkte nicht mehr stark, vielleicht war sie es auch nie gewesen. Falls dem so war, weshalb dann dieser falsche Mut? Weshalb versuchte sie dann die anderen im Raum vom genauen Gegenteil zu überzeugen? Vielleicht war das ja auch ihre volle Absicht und sie hatte allen Grund nervös zu sein, weil sie etwas zu verbergen hatte. Klar doch! Sie hatte Dreck am Stecken und gab sich die größte Mühe, damit ihr Geheimnis nicht ans Licht kam. War sie etwa für die Todesfälle verantwortlich? Energisch schüttelte sich Anouk. Was sollte das denn nun? Vorhin war sie sauer auf die Anderen gewesen, da sie sich gegenseitig beschuldigt hatten und jetzt tat sie genau das. Manchmal ärgerte Anouk sich wirklich über sich selbst. Es konnte einfach keiner aus den eigenen Reihen sein. Das war nicht nur eine schwerwiegende Anschuldigung, sondern auch noch schlichtweg unlogisch. Die Opfer hatte es immer dann erwischt, wenn sie das Haus verlassen hatten. Das wäre doch für den Mörder, falls er sich denn unter ihnen befand ziemlich ungünstig, oder? Zu töten, wenn die Opfer sich nicht mehr in seiner Reichweite befanden? Anouk warf den Gedanken schnell weg, aus Angst, ihr könne wohlmöglich noch ein Gegenargument einfallen. Sarah hatte sich soeben von ihrem Stuhl erhoben und war zum Küchenschrank gelaufen. ,,Was machst du?", fragte Anouk und hätte sich im nächsten Moment für diese überaus dämliche Frage mit der flachen Hand vor die Stirn schlagen können. Was wollte man wohl tun, wenn man zum Küchenschrank begab? Man brauchte natürlich keinen Teller oder ähnliches, bloß nicht! Sarah rang sich ein müdes Lächeln ab. Sie schien die Frage wohl genau so sinnlos zu finden wie Anouk, antwortete aber trotzdem. ,,Weil ich ein Messer brauche, um das Brot zu schneiden, du Genie." Sie drehte sich um und öffnete die Küchenschublade, verharrte dann jedoch regungslos. ,,Äh, Sarah. Die Messer sind zwei Schubladen drüber. Die Schublade da ist leer, das haben wir doch bei der Ankunft bereits festgestellt." Doch Sarah rührte sich keinen Zentimeter und machte auch keinerlei Anstalten die Schublade wieder zu schliessen und stattdessen die richtige zu öffnen. Sie stand einfach nur da, den Kopf gesenkt, damit sie weiterhin auf die Schublade (oder vielmehr ihren Inhalt) starren konnte. Zwar konnte man ihr Gesicht dank dieser Umstände und den schulterlangen roten Haaren, die ihr in eben dieses fielen nicht sonderlich gut erkennen, doch Anouk war sich sicher, dass es ebenso leichenblass war, wie die von Jan und Bela. ,,Sarah, ich habe es dir doch schon gesagt: Die Schublade da ist leer.", wiederholte Riccardo seine Aussage. ,,Und was..."Sarah streckte die Hand in die Schublade und hob den Gegenstand, welcher sich darin befand heraus, bevor sie ihren Satz beendete mit einem: ,,ist das dann bitte?" Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie wirkte wieder so zerbrechlich, wie an jener Nacht, als Riccardo sie gemeinsam mit Anouk von den Leichen der beiden Jungen weggezerrt hatte. Und dann sah Anouk den Gegenstand, den Sarah da in der Hand hielt und sie wurde ebenso blass, wie das Mädchen. Sarah umklammerte ihn so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. ,,Wer von euch Wichsern war das?", fragte sie. Ihr Entsetzen wich Wut. Und zugegeben: Anouk konnte es sehr gut nachvollziehen. Denn das was bis vor kurzem noch dort in der Schublade gelegen hatte jagte Anouk einen kalten Schauer über den Rücken und ihre Nackenhaare stellten sich auf. ,,Sarah...", begann Riccardo auf das Mädchen einzureden, doch sein Versuch sie zu beschwichtigen machte sie nur noch rasender. ,,Keinen Schritt näher!", knurrte sie mit geweiteten Augen und drehte sich hektisch hin und her, um alle gleichzeitig im Auge zu behalten. ,,Zuerst erklärt mir einer von euch warum wir ein blutverschmiertes Messer in einer angeblich leeren Schublade liegen haben!"...
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The cabin
Misterio / SuspensoEine Gruppe von Jugendlichen, die sich über das Internet kennen gelernt haben, planen (um einander besser kennen zu lernen) einen zwei wöchigen Urlaub in einer abgelegen Berghütte. Doch als einer von ihnen stirbt wird, wird aus Spaß schnell blutiger...