Verdächtigungen

48 6 9
                                    

Riccardo saß Vega gegenüber auf dem Sessel und vergrub das Gesicht in den Händen. Er war wirklich davon ausgegangen, dass sie tot sei. So langsam begann er an sich selbst und seinen Fähigkeiten zu zweifeln. Aber das, was ihn am meisten beunruhigte war, dass sie technisch gesehen tatsächlich tot gewesen war. Sie konnte einfach nicht am Leben sein, ihr Herz war stehen geblieben, Riccardo hatte das mit seinen eignen Augen gesehen. Er blickte auf und sah in Vegas schlafendes Gesicht. Jetzt wirkte sie wiederum ziemlich lebendig und ihr Herz schlug auch wieder. Riccardo konnte sich das mit nichts anderem erklären, als mit einem Wunder, auch wenn das absurd klang. Er dachte an sein Gespräch mit Hanna zurück. Was er Hanna nicht gesagt hatte war, dass er sehr wohl an Geister glaubte, aber nicht davon ausging, dass Vega einer war. Die Augen des Jungen wanderten durch den Raum zum Fenster. Draußen war es stockdüster, nur ab und zu glitten weiße Schneeflocken so nah am Fenster vorbei, dass man sie trotz der enormen Dunkelheit erkennen konnte. Die einzigen hörbaren Geräusche waren der Wind, der von Zeit zu Zeit durch minimale Lücken im Haus pfiff und das knisternde Holz im Kamin, das zu einem verkohlenden kleinen Berg aufgetürmt war. In dem Feuer blitzte etwas auf. Riccardo beugte sich nach vorne, um einen genaueren Blick auf den Gegenstand werfen zu können, war jedoch nach wie vor nicht in der Lage etwas zu erkennen. Er konnte sich zwar schon fast denken, was es war, nahm sich jedoch trotzdem eine Suppenkelle und begann mit deren Rückseite in den Flammen herumzustochern. Es dauerte eine Weile bis es ihm gelang das Messer aus dem Kamin zu ziehen, zumal es fast zur Gänze von den Holzscheiten verdeckt wurde. Riccardos Vermutung hatte sich also bestätigt: Es handelte sich um jenes Messer, mit welchem Sarah Anouk verletzt hatte. Der Junge betrachtete die Waffe, die zu seinen Füßen lag. Der Griff aus schwarzem Plastik war geschmolzen und die Klinge war beinahe komplett mit Ruß bedeckt- aber eben nur beinahe. Dort waren Fingerabdrücke, Stellen, auf denen sich kein Ruß befand. Wie konnte das sein? Riccardo hatte das Messer nicht angefasst, da er befürchtet hatte, die Klinge könne noch heiß sein und er hatte nicht sonderlich große Lust sich zu verbrennen. Aber dort waren sie- die Abdrücke von Fingern. Das bedeutete, dass Riccardo nicht der erste gewesen war, der sich für das Messer interessierte. Jemand musste es vor ihm aus dem Kamin genommen und wieder zurückgelegt haben. Nur wer? Und zu welchem Zweck? ,,Was machst du da?", wisperte eine verschlafene Stimme hinter Riccardos Rücken. Er drehte sich um und sah Vega, die sich die Augen rieb. Er antwortete nicht und er zeigte ihr auch nicht das Messer hinter seinem Rücken. Er wollte sie nicht unnötig verängstigen. Er hatte ja schon genug Schuldgefühle, da er sie für tot erklärt hatte. Vega bekam natürlich Wind von Riccardos kläglichem Versuch, das Messer zu verstecken und reckte den Kopf zur Seite, um hinter den Rücken des Jungen sehen zu können. ,,Was ist das?". Als Riccardo einen Anflug von Panik in ihrer Stimme orten konnte überkam ihn Unsicherheit. Es war nicht seine Absicht gewesen ihr Furcht einzujagen. Aber machte er ihr nicht bloß noch mehr Angst, wenn er ihr das Messer zeigte? Andererseits würde Vega denken, er führe etwas im Schilde, wenn er es nicht tat. ,,Riccardo?", fragte Vega deutlich verunsichert. Riccardo wollte etwas sagen, wusste jedoch nicht was. Stattdessen versuchte er den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. Was sollte er tun, um die Situation zu klären? Vega würde ihn jetzt mit Sicherheit verdächtigen und wenn sie das den anderen gegenüber erwähnte, dann war er geliefert. Wenn die dachten, er wäre der Mörder... Riccardo wollte sich gar nicht erst ausmalen, wozu die fähig waren in dem Glauben, sich selbst verteidigen zu müssen- vor ihm. ,,Riccardo?", rief Vega, so angsterfüllt, wie noch nie. Sie dachte vermutlich, er würde sie umbringen wollen oder so etwas in der Art. Die Pupillen ihrer glasigen Augen zuckten panisch umher und Riccardo konnte sich vorstellen, was sich gerade in ihrem Kopf abspielte: Sie fragte sich, weshalb er diesen mysteriösen Gegenstand vor ihr versteckt hielt und zog daraus den Schluss, dass es etwas sein musste, das ihn belasten würde, weshalb er sie töten musste- weil sie zu viel wusste. Weil sie dadurch gefährlich wurde. Oh man, was sollte Riccardo nur tun, um sie von diesem Irrglauben zu befreien. Zugegeben, in ihrer Situation hätte er vermutlich genau das selbe gedacht und den gleichen Schluss gezogen. In diesem Moment öffnete sich im Treppenhaus quietschend eine Tür. Für einen Moment war Riccardo unachtsam. Als er sehen wollte, wer da die Treppe herunter kam lehnte er sich zur Seite, sodass Vega einen Blick auf das Ruß verschmierte Messer werfen konnte. Sie sog erschrocken die Luft ein. Hanna war gerade am Fuß der Treppe angekommen und zu verdutzt um etwas zu sagen. Ihrem Gesichtsausdruck konnte Riccardo entnehmen, dass sie ziemlich verwirrt war. Sie kam unschlüssig näher, doch Vega schien das nicht einmal aufzufallen. Stattdessen schlug sie voller Entsetzten die Hände vor den Mund, was es schwer machte sie zu verstehen, als sie flüsterte: ,,Sarah...". Ihre Augen weiteten sich, dann drehte sie sich zu Riccardo und Hanna um und sagte: ,,Sie ist daran Schuld! Ihr müsst weg hier, sie ist gefährlich!". Hannas Miene verdüsterte sich. Für einen Moment war Riccardo so verdutzt, dass er nicht realisierte, was Vega da überhaupt gesagt hatte. Er beruhigte sich etwas, als er bemerkte, dass es wohl daran lag, dass Vegas Erinnerungen zurück kehrten. Natürlich! Beim Anblick des Messers hatte sie sich an Sarahs... nun ja... Ausbruch erinnert, als sie Anouk mit dem Messer verletzt hatte. Riccardo sah zu Hanna, die gar nicht ruhig aussah. Sie blickte noch düsterer drein, als vorhin. Er wollte sie gerade darauf ansprechen, als Vega auf einmal die Augen verschraubte und rücklings auf das Sofa fiel. Das war dann wohl zu viel für sie. Riccardo sah nach, ob es ihr wirklich gut ging, aber es war tatsächlich nur der Schock. Eigentlich machte er sich mehr Sorgen um Hanna. Sie hatte während dieses Vorgangs kein Wort gesagt, nur verbittert in die Gegend gestarrt und dabei extrem nachdenklich gewirkt. ,,Ist was?", wollte er wissen, woraufhin Hanna zähneknirschend antwortete: ,,Sarah.". Sie sagte diesen Namen so abschätzig, dass Riccardo sofort bewusst wurde, dass er Hanna lieber nicht zum Feind haben wollte. Er brauchte einen Moment um zu realisieren, dass Hanna Vegas Worte ernst genommen hatte und fing sofort an zu erklären: ,,Hör mal, sie hat sich bei dem Anblick des Messers wieder daran erinnert, wie Sarah Anouk-", doch weiter kam er nicht, denn er wurde von dem Mädchen unterbrochen. ,,Ich weiß genau, was du sagen willst, weil ich das auch angenommen habe- zuerst. Aber dann-". Sie machte eine kurze Kunstpause, bevor sie ihre Erläuterung fort führte. ,,Ist mir etwas eingefallen. Du erinnerst dich doch mit Sicherheit daran, als ich dir von meiner Theorie erzählt habe.". Riccardo wusste weder von welcher Theorie sie da sprach, noch worauf sie hinaus wollte und so wie es aussah konnte man ihm seine Ratlosigkeit ansehen, denn Hanna verdrehte die Augen und sagte: ,,Komm schon! Die Theorie, dass sie für die Tode verantwortlich ist. Leuchtet das nicht ein?". Riccardo fand es kein bisschen einleuchtend. Obwohl einige Tatsachen diese Vermutung nahelegten war ihm das noch nicht Beweis genug. Er brauchte etwas handfestes. Trotzdem widersprach er ihr nicht, sondern zuckte lediglich mit den Schultern. ,,Was, wenn Vega sich an etwas anderes erinnert? Etwas, von dem wir noch gar nicht wussten, dass es überhaupt passiert ist? Etwas, das nur sie gesehen hat? Und deshalb hat sie uns gewarnt. Weil sie weiß, dass Sarah die Mörderin ist!", spekulierte Hanna. Für sie schien das ganze mehr als nur plausibel, doch für Riccardo war das der komplette Unsinn und noch dazu weit hergeholt. Wie kam Hanna nur immer auf so etwas? Riccardo war klar, dass sie sich nicht beirren lassen würde und an ihrer ach-so-tollen Theorie festhalten würde, aber er sagte ihr trotzdem was er dachte. ,,Hanna, wie willst du das beweisen? Ich denke, wenn du in Sarah unbedingt eine Mörderin sehen willst, dann wirst du auch nur eine in ihr sehen. Verstehst du was ich meine? Da du davon ausgehst, dass sie eine ist verdrehst du alle Tatsachen so, dass sie verdächtig ist, egal was sie tut. Du musst ihre Unschuld in Betracht ziehen, sonst verlierst du deine objektive Sicht auf die Fakten.". Wenn du sie nicht schon längst verloren hast, dachte Riccardo, aber das behielt er dann doch lieber für sich. Er wollte nicht noch ein zweites mal unnötigen Stress anfangen. Hanna sah irgendwie enttäuscht aus. Dann machte sie eine Art Schmollmund, was verdammt komisch aussah und sagte, wieder voller Selbstvertrauen: ,,Aber einen Beweis habe ich!". Riccardo verschlug es die Sprache. Hanna hatte was? Einen Beweis? Wie konnte das sein? Das Mädchen deutete auf die Couch, wo Vega schlief. ,, SIE ist mein Beweis!", meinte sie triumphierend. Riccardo zog eine Augenbraue hoch. Was hatte Vega damit zu tun? Bevor er fragen konnte gab ihm Hanna bereits eine Antwort: ,,Sobald sie aufwacht wird sie allen erzählen, woran sie sich wirklich erinnert hat und Sarah ist geliefert!". Jetzt drehte Hanna endgültig durch. Woher wollte sie denn wissen, dass Vega tatsächlich einen belastenden und eindeutigen Beweis für Sarahs Schuld parat hatte? Das beruhte doch alles nur auf Vermutungen. Doch seine vorherigen Versuche Hanna davon zu überzeugen waren allesamt fehlgeschlagen und eine weitere Bemühung wäre lediglich Zeitverschwendung. Deshalb widersprach er nicht. Es war Hannas Problem, wenn sie sich lächerlich machte und Vega vor allen Leuten sagen würde, dass es eben doch nur die Erinnerung an Sarahs Messer Attacke war, von der sie ja alle Zeuge geworden waren. Nun ja, fast alle. Hanna selbst war ja erst später dazu gekommen und kannte zumindest den Anfang des Geschehnisses nur aus Erzählungen. Aber eigentlich war das ja auch vollkommen egal. Riccardo schwieg und es wurde still im Zimmer. Irgendwie bedrückte ihn diese unangenehme Form der Ruhe, deshalb schnitt er ein neues Thema an und fragte: ,,Weshalb bist du überhaupt hier? Ich meine, was hat dich dazu bewegt hier hin zu kommen?". Hanna wurde verlegen und mied Riccardos Blick, als sie antwortete: ,,Eigentlich... wollte ich mich noch mal entschuldigen. Dass ich so sauer war, das hatte nicht viel mit dir zu tun. Eher mit mir. Als ich wütend auf dich geworden bin, da musste ich an ganz viele andere Dinge denken, auf die ich viel eher wütend sein sollte: Auf den Mörder, den Schneesturm, der uns hier festhält, dass wir noch nicht einmal Kontakt zur Außenwelt haben... Und irgendwie musste ich diesen Zorn loswerden, der sich viel zu lange in mich hinein gefressen hat. Ich habe das Geschirr nicht nach dir geworfen, einfach ziellos irgendwo hin. An irgendeine Wand. Und es kam mir nicht so vor, als wäre meine Entschuldigung so gut angekommen. Ich wollte euch das erklären, aber ich wusste nicht wie. Und als du dich heute Abend freiwillig gemeldet hast, um Wache bei Vega zu halten, falls sie medizinische Versorgung braucht, da dachte ich, ich laufe mal kurz nach unten, wenn alle anderen schon schlafen und kläre die Sache unter vier Augen.". Riccardo nickte. Er gab es ja nur ungern zu, aber egal wie unrecht sie mit ihrer Theorie im Bezug auf Sarah hatte, so hatte sie doch dieses eine mal vollkommen recht. Es gab wirklich Dinge, auf die man viel eher wütend sein sollte in solch einer Situation. ,,Man, siehst du müde aus! Du hast ja Augenringe bis zu den Knien!", bemerkte Hanna plötzlich. Riccardo sah auf seine Uhr. Es war tatsächlich schon spät, viel später, als erwartet. ,,Was hältst du davon, wenn ich den Rest deiner Schicht übernehme und du stattdessen noch ein paar Stunden schlafen gehst?". Hannas Vorschlag hörte sich verlockend an, daher nickte Riccardo dankbar, gähnte Hanna auf der Treppe Gute Nacht zu und ließ sich in seinem Zimmer direkt auf das Bett fallen. Er machte sich nicht einmal die Mühe sich umzuziehen, sondern schloss direkt seine Augen und schlief wenige Sekunden später ein.

The cabinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt