Was nun?

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Die Dunkelheit, die Vega umgab wich einem warmen Licht, vermischt mit erregtem Stimmen Gemurmel. Sie fragte sich, was los war und worüber die Leute so aufgebracht diskutierten. Das Mädchen war ausser Stande sich zu orientieren, da sie noch nicht einmal klar sehen konnte. Alles war verschwommen. Sie öffnete die Augen zur Gänze und ihr Blickfeld wurde schärfer. Es war Nacht. Sie lag, in eine dicke Decke eingehüllt, auf dem Sofa. Eine Gruppe, die aus Sarah, Hanna und Riccardo bestand, saß im Kreis auf dem ausgeblichenen Teppich vor dem Kamin, in dem ein helles Feuer brannte. Riccardo raufte sich die Haare und beschwerte sich: ,,Warum ist es ausgerechnet Anouk, die solche eine behinderten Aktionen veranlasst? Gerade von ihr hätte ich erwartet, dass sie intelligent genug ist, um zu erkennen wie gefährlich das ist.". Anouk- das war doch das Mädchen mit den grünen Augen, den braunen Haaren und den markanten Augenbrauen. Genau, das war sie. Und sie war es auch gewesen, die Vega auf der Kellertreppe vor dem Fallen bewahrt hatte. Sie hatte sie aufgefangen, sie hatte dafür gesorgt, dass sie jetzt hier lag. Vega konnte sich zwar nach wie vor an nichts erinnern, was vor der Keller-Geschichte passiert war, aber sie musste eine ziemlich gute Beziehung zu dieser Anouk gehabt haben. Sich nicht mehr an diese Freundschaft erinnern zu können machte sie traurig. Es war, als hätte sie vor dem Zeitpunkt, zu dem sie in der Holzbox erwacht war, nicht gelebt. Denn woran sie sich nicht erinnern konnte, das war nicht passiert. Zwar kamen von Zeit zu Zeit Bruchstücke ihrer Erinnerungen ans Licht, diese verschwanden jedoch genau so schnell, wie sie gekommen waren. Es war, als hätte sie ständig ein Déjà vu. Alles hier kam ihr unglaublich bekannt vor, doch sie wusste nichts mit dieser Information anzufangen. Je angestrengter sie versuchte sich zu erinnern, desto weniger gelang es ihr, als würde sie versuchen Wasser mit bloßen Händen zu greifen. Mit jedem Anlauf, den sie startete wuchs ihr Frust über die nicht gelingenden Versuche in die Höhe. So erinnerte sie sich zum Beispiel daran, Hanna und Riccardo vor Sarah gewarnt zu haben, wusste aber nicht mehr weshalb und das machte ihr die größten Sorgen. Sie war gezwungen genau so sehr über sich zu rätseln, wie die Anderen. Genau genommen wusste sie sogar noch weniger über sich selbst, als der Rest und das war wirklich eine äußerst unangenehme Erfahrung. Seit diesem Vorfall mit der Warnung vor Sarah misstraute Vega dem Mädchen und fühlte sich in ihrer Gegenwart eher unwohl. Aufgrund dessen spürte sie auch leichte Wellen der Panik in sich aufsteigen, als sie bemerkte, wie Sarahs klare blaue Augen auf ihr ruhten und sie inspizierten. Vega wusste zwar, dass das nicht möglich war, aber es kam ihr trotzdem so vor, als könne das mysteriöse Mädchen durch ihre Augen geradewegs in ihren Kopf schauen und Vega konnte sich kaum vorstellen, dass ihr gefiel, was sie sah. ,,Sie ist aufgewacht.", verkündete Sarah. Jetzt drehten sich auch Riccardo und Hanna um. Von drei Augenpaaren gleichzeitig so angestarrt zu werden bescherte Vega ein ungutes Gefühl in der Magen Gegend. ,,Was ist mit Anouk?", fragte Vega. Wenn sich schon die Aufmerksamkeit der Drei auf sie richtete, dann konnte sie das doch wenigstens zu ihrem Vorteil nutzen. Die Gruppe tauschte Blicke untereinander aus. Riccardo sah erst Hanna, dann Sarah fragend an bevor er antwortete: ,,Sie... Äh... Sie ist weg. Gegangen- einfach so.". Er biss sich auf die Unterlippe. Vega klappte die Kinnlade herunter, was ziemlich dämlich aussah, doch keiner lachte. Die Sache musste ernst sein- sehr ernst. Vega stammelte etwas bevor sich in ihrem Kopf überhaupt erst ein richtiger Satz anordnen konnte. ,,Warum hat sie das gemacht? Und wo zur Hölle ist sie jetzt?", wollte Vega wissen. ,,Diese Fragen stellen wir uns auch gerade.", erklärte Sarah. Vega war verwundert. Sie zog eine Augenbraue in die Höhe und fragte: ,,Soll das etwa heißen, ihr wisst es nicht?". Alle aus der Runde senkten den Kopf leicht und schüttelten ihn bedrückt. ,,Wir wissen nur, dass sie in Richtung Wald gelaufen ist, aber wer weiß schon was sie da will und ob sie überhaupt da geblieben ist. Vielleicht will sie sich mit dem Wagen aus dem Staub machen.", gab Hanna zu bedenken. ,,Mensch Hanna, das kann sie doch gar nicht.", meinte Riccardo und ließ die Autoschlüssel in seiner Hand klirren, indem er sie hin und her schüttelte. Er steckte sie wieder in seine Hosentasche und fuhr fort: ,,Selbst wenn sie den Van aufknacken könnte, dann würde ihr das nichts bringen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass sie auf dem Weg ins Tal umgebracht wird.". Als er bemerkte, dass seine Worte nicht gerade ermutigend waren sagte er schnell: ,,Tut mir leid.", woraufhin alle für einen Moment schwiegen. ,,Können wir ihr nicht trotzdem irgendwie helfen?", fragte Vega händeringend und sah verzweifelt in die Runde, wo jeder ihrem Blick auswich. ,,Kommt schon!", forderte sie, obwohl ihr selbst nichts einfiel, wie sie Anouk aus ihrer brenzlichen Lage hätten heraus helfen können. Na toll, jetzt fühlte sie sich,wie der größte Feigling. Vega seufzte resigniert und ließ den Kopf hängen. Sie wollte unbedingt helfen, konnte es aber nicht und das nur wegen ihrer Mangelnden Fähigkeit sich zu erinnern. In ihrem jetzigen Zustand hatte sie keinerlei Nutzen für die Gruppe und kam sich vor wie Jedermanns Klotz am Bein, eine unnötige Last die es gar nicht geben dürfte. ,,Wer hält heute Nacht eigentlich Wache bei Vega?", wechselte Riccardo das Thema. ,,Ich mache das.", meldete sich Sarah zu Wort, hob die Hand in die Höhe und wedelte damit in der Luft herum, wie ein drei jähriges Kind. ,,Nein, ehrlich, es geht mir prima! Du musst das nicht für mich machen, Sarah. Ich komme schon alleine klar!" ,versicherte Vega dem Mädchen. Dass Sarah jetzt auch noch Nachtwache bei ihr halten wollte, hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie fand es ja schon in wachem Zustand beängstigend allein mit ihr in einem Raum zu sein, aber wenn sie schlief hatte sie gar keine Möglichkeit sich zu verteidigen, sollte Sarah sie angreifen. Das rothaarige Mädchen lächelte sie freundlich an und versuchte sie zu beruhigen mit den Worten: ,,Ach, komm schon! Keine falsche Bescheidenheit. Das ist gar kein Problem für mich! Ich habe ohnehin in letzter Zeit Schwierigkeiten einzuschlafen, da kann ich mich ja wenigstens nützlich machen und ein Auge auf dich werfen.". So wie sie das sagte klang das irgendwie gruselig. Vega musste sie davon abhalten, solange sie noch die Chance dazu hatte. ,,Nein, ich meine das ernst! Du musst dir keine Mühe machen. Ich kann auch wieder in meinem Zimmer schlafen, ich brauche keine Aufsicht mehr. Als ihr mich gefunden habt, da war ich noch total geschwächt, aber jetzt habe ich genug Kraft gesammelt um mich zu bewegen, falls ich doch Hilfe brauchen sollte.". Vega hatte so viel Überzeugung wie nur möglich in ihre Stimme gelegt, aber das änderte nichts an der Tatsache: Was sie gesagt hatte war und blieb gelogen. Sie konnte nur hoffen, dass die anderen das nicht merkten, sonst war sie geliefert. ,,Ach wirklich?", fragte Sarah erstaunt. Vega nickte nur. ,,Na wenn das so ist...", meinte Sarah und zuckte mit den Schultern. Vega wollte gerade erleichtert aufatmen, als Riccardo den glorreichen Vorschlag machte, Vega solle doch wenigstens für heute Nacht noch auf der Couch schlafen. ,,Wieso denn das?", fragte Hanna. ,,Ganz einfach:", begann der Junge zu erklären. ,,Sollte Anouk zur Hütte zurück kehren, dann kriegen wir das mit.". Für Vega ergab diese Erläuterung keinen Sinn und für Hanna anscheinend auch nicht, denn sie sah Riccardo an, als wäre er komplett bescheuert. ,,Glaubst du etwa sie kommt durch die Tür? Die ist doch verriegelt!", sagte sie und deutete auf das massive Holz, das von riesigen Scharnieren in den Angeln gehalten wurde. ,,Und es ist ja auch nicht so, als könnte sie anklopfen. Immerhin wollte sie, dass ihr Verschwinden geheim bleibt, weshalb sollte sie das dann bei ihrer Rückkehr ändern?", wunderte sich Hanna. Dann erhob Riccardo seine Stimme: ,,Sie hat ihr Zimmerfenster offen gelassen, damit sie wieder rein kommt. Ich musste es logischer Weise schliessen, da sonst auch der Mörder die Hütte hätte betreten können. Also muss sie bei ihrer Rückkehr auf anderem Wege ins Haus gelangen. Das einzige Problem ist nur: Es gibt keine andere Möglichkeit das Haus zu betreten. Mit anderen Worten: Sollten wir nicht merken, dass sie zurück kommt ist sie ausgesperrt und zwar so lange, bis es doch irgendeiner von uns mitkriegt. Und je schneller sie in die Hütte kommt, desto geringer ist der Zeitraum, in dem sie sich draußen aufhält und somit auch die Gefahr.". Hanna und Riccardo diskutierten noch eine Weile und kamen letztendlich zu dem Schluss, dass Anouk auch einfach an ein Fenster im unteren Geschoss klopfen konnte. Damit waren alle zufrieden und nachdem das geklärt war, kehrten sie auf ihre Zimmer zurück. Nur Vega wartete noch, bis alle weg waren, bevor auch sie sich auf den Weg in ihr Zimmer machte, damit keiner merkte, wie wacklig sie noch auf den Beinen war. Sie war gerade aufgestanden als ihr auffiel, dass sie gar nicht die Kraft besass, sich mehr als ein paar Meter weit zu bewegen. Es sah ganz danach aus, als müsse den Rest der Nacht noch auf der Couch verbringen. Deshalb blieb sie einfach liegen und starrte aus dem Fenster, wissend, dass Anouk immer noch da draußen war.

The cabinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt