Stille

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Dunkelheit.
Dann gleißendes Licht, dass vor seinen Augenliedern explodiert.
Mühsam kommt er zu sich.
Wo ist er? Verwirrt blickt er sich um. Überall weiß.
Als er sich hochrappelt, entdeckt er eine kleine Kiste in der Mitte des Raums. Von ihr geht eine bedrohliche Spannung aus. Ihm wird ganz mulmig.
Das ist doch nur eine Kiste. redet er sich ein, doch in seinem Hinterkopf flüstert es spöttisch, nur eine Kiste? Wohl eher nicht.
Er geht langsam, abschätzend, immer näher an die Kiste heran. Bei jedem Schritt darauf gefasst, zurück zu springen. Vorsichtig legt er seine Hand auf das Holz der Kiste.
Er greift nach ihr, und hebt sie mit großen Anstrengungen hoch. Wie kann sie so schwer sein? Größe und Gewicht passen überhaupt nicht zusammen...

Gespannt hebt er den Deckel an, und wird von der Stärke, der Erinnerungen, fast umgeworfen.
Der Unfall.
Der metallische Geschmack von Blut in seinem Mund.
Das Jaulen der Sirenen.
Besorgte Gesichter die sich über ihn beugen.
Saras Augen.
Ihr Schrei.
Keuchend klappt er die Kiste zu, und schmeißt sie von sich, als wäre der Teufel höchstpersönlich in ihr eingeschlossen.
Das darf doch nicht wahr sein.
Sara. Wie geht es ihr?
„Komm zur Ruhe Sterblicher. Ich werde dir zur Seite stehen.“ hört er eine melodische Stimme hinter ihm.
Als er sich umdreht, blickt er in das Gesicht einer Frau. Einer überirdisch schönen Frau. Pechschwarze, lange Haare ergießen sich über einen zierlichen Körper. Grüne Hexenaugen mustern ihn prüfend, wenn man länger hinsieht, kann man Goldfunken in dem Grün erkennen. Ihre feinen Gesichtszüge sind leicht angespannt, und ihre schlanken Hände strecken sich ihm entgegen.
„Wer bist du? Und was soll ich hier?“ fragt er unsicher, und wendet den Blick von ihren stechenden, grünen Augen ab.
„Du bist tot. Das weißt du oder?“ antwortet sie ruhig, und streckt die Hände noch weiter nach ihm aus.
Tot. hallt es durch seinen Kopf. Seine Beine geben nach, und er sinkt erneut zu Boden.
„Ich bin tot?“ fragt er mit krächzender Stimme, und spürt wie sein Herz sich schmerzhaft zusammen zieht.
„Ja. Zumindest erlitt dein Körper so schwere Verletzungen, dass du tot sein solltest.“
„Aber wieso bin ich dann hier?“ murmelt er, „Wo ist hier überhaupt?“.
„Du bist hier, weil wir dir eine zweite Chance geben möchten. Ich bin dein Schutzengel, und ich habe bei IHM, um eine zweite Chance für dich gebeten.“
„Schutzengel? Das wird alles immer verrückter. Wahrscheinlich werde ich wahnsinnig.“ flüstert er mit brechender Stimme.
„Strenge deinen Kopf nicht zu sehr an. Folge mir, ER möchte dich sprechen.“ antwortet sie ruhig, ergreift seine Hände und zieht ihn auf die Beine.

Als die seltsame Frau in die Hände klatscht, öffnet sich der Boden, und eine Wendeltreppe, die aus goldenem Licht zu bestehen scheint, steigt aus dem Boden herauf.
Sie greift erneut nach seiner Hand, und springt auf eine Stufe.
Mit einem Ruck schießen sie nach oben, und treten auf einem Podest wieder von der Treppe herab.
Sie führt ihn durch einige Gänge, die einem Krankenhaus massiv ähneln. Vorbei an anderen Menschen, die stumm vor sich hin blicken, oder hilfesuchend ihre Hände nach ihm ausstrecken.
Vor einer Tür bleibt sie stehen, drückt seine Hand und geht hinein.

Er wartet.
Es macht ihn schier wahnsinnig. Was soll das alles?
Gerade als er sich abwenden will, und irgendwie zurück in den seltsamen weißen Raum finden will, öffnet sich die Tür mit einem leisen Klicken.
Als er den Raum betritt, sieht er niemanden. Weder seinen „Schutzengel“, noch sonst irgendein menschliches Wesen.
Er setzt sich, nach einigem Zögern, auf einen Stuhl, der mitten im Raum, ohne Tisch oder ähnliches, steht.
Kaum hat er sich gesetzt ertönt eine volle, tiefe männliche Stimme.
„Was willst du hier?“
Erschrocken fährt er zusammen.
„Ich weiß es nicht.“ antwortet er stotternd.
„Weißt du denn nicht weshalb du hier bist?“ grollt die Stimme, und ihm läuft ein Schauer über den Rücken.
„Doch. Ich ... Ich bin tot.“ antwortet er mit immer leiser werdender Stimme.
„Siehst du. Geht doch.“ gibt die Stimme versöhnlicher zurück, „Aber du bist hier, weil du eine zweite Chance verdient hast.“
„Womit soll ich die denn verdient haben?“ murmelte er, und blickt unsicher umher.
„Ja. Gute Frage. Wieso sollte ich sie dir geben?“ überlegt die Stimme.

Angst kriecht in seinen Gliedern hoch. Er will nicht sterben. Und Sara... Sara braucht ihn.
„Soso... Du willst also nicht sterben.“ murmelt die Stimme, und klingt nachdenklich.
„Nein. Und... Ich kann die Menschen, die zu meiner Familie gehören nicht allein lassen.“ antwortet er.
„Hm...“
Er ist auf dem richtigen Weg, er weiß es einfach.
„Ich liebe sie. Sara. Ich will nicht ohne sie.“ sagt er mit versagender Stimme, während ihm die Tränen kommen.
„Nun gut, jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient, aber nicht jeder macht das beste aus ihr. Mach das beste daraus.“ tönt die Stimme, und ist dann plötzlich verschwunden.

Die Frau von vorhin, sein Schutzengel korrigiert er sich, öffnet die Tür, und lächelt ihm zu.
„Nun komm. Wir bringen dich zurück. Dorthin wo du hingehörst.“ hört er ihre melodische Stimme.
Er läuft neben ihr den Korridor zurück, spürt wie sie noch einmal seine Hand drückt, und sieht, wie sie langsam verblasst.
Ihm wird schwindelig.
Als er erneut erwacht, hört er das Piepsen, von lauter kleinen Apparaten. Ein gleichmäßiger, starker Ton zeigt ihm seinen Herzschlag.
Er lebt.

Danke, formt er in Gedanken, und spürt eine warme Berührung auf der Stirn. Der Schmerz kehrt urplötzlich zurück, und die Schwerelosigkeit seines Körpers ist verfolgen.
Zitternd atmet er ein und wieder aus.

Ich werde meine zweite Chance nutzen. denkt er noch, bevor in die weiche Dunkelheit des Schlafs umfängt.

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