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Im Zimmer war es dunkel. Ein einziger kleiner Lichtstrahl fiel durch ein abgedecktes Fenster in den Raum, als hätte er sich verirrt. Ich konnte die Silhouette einer Gestalt sehen, doch ich wusste, dass Jay es war, der auf dem Boden saß. Ich nahm seinen Duft wahr.

Er duftete nach einem Sommerregen. Wenn das kühle Nass auf die heissen Straßen fiel. Es war ein Duft, der mich schwindelig machte und mich verwirrte.

Er hatte den Kopf gesenkt und bemerkte mich offenbar nicht. Als ich einen Schritt nach vorn machte, hörte ich, wie er mit leiser Stimme Worte wiederholte. Doch es waren Worte in einer fremden Sprache, die ich nicht verstand.

Ich hörte ihn nur schwer, weshalb ich noch einen Schritt auf ihn zuging. Plötzlich knarrten die Dielen. Jay wurde still und sein Körper spannte sich sofort an. "Was machst du hier?" Seine Stimme klang fremd. Ich schluckte und trat zurück. Augenblicklich war Jay aufgesprungen und presste mich an die Wand. Ich keuchte und zuckte zusammen, als ich gegen die Wand gedrückt wurde. Sein Duft wurde dadurch nur intensiver.

"Oh.. Du bist es."

Als Jay mich ansah, wurden seine Gesichtszüge sofort weicher. Seine Augen funkelten amüsiert. Da war noch etwas Anderes in seinen Augen.. War es Trauer?
Ich konnte es nicht definieren.
Jay grinste. Er hatte anscheinend gemerkt, dass mir diese Lage höchst unangenehm war: Mir wurde sofort heiß und ich wurde rot. "Ähm.. Könntest du mich bitte loslassen?", fragte ich kleinlaut.
Natürlich erhielt ich keine Antwort von ihm. Da reichte es mir. Ich stampfte mit voller Wucht auf seinen Fuß und Jay lockerte seinen Griff um meine Arme. Dann riss ich mich von ihm los und stand vor ihm. Als ich einen Schritt zurückmachte, machte er einen nach vorne.

"Was war das für eine Sprache?", fragte ich.
"Latein." "Klang gar nicht danach."
"Vielleicht weil du es nicht kannst."

Diese Bemerkung ließ der Empörung in mir freien Lauf. Ich zerrte meinen Rucksack nach vorne, griff nach den Hausaufgaben und schmiss sie auf den Boden.
Jay sah mir nach, als ich das Zimmer verließ, die Haustüre aufriss und sie dann kräftig hinter mir zuknallte.
Einen Satz hatte er mir hinterhergerufen:

"Schlaf ja nicht zu spät ein!"

Lori wusste sofort, dass etwas passierte.
"Und? Wie wars? Habt ihr euch geküsst oder hat er dich Schlampe genannt?", fragte sie eilig.
Ich sah sie fragend an. "Können wir bitte aufhören über ihn zu reden? Mir ist echt nicht danach", antwortete ich, während wir Spaghetti aßen. Lori hatte inzwischen schon fertiggekocht und den Tisch gedeckt, das Wichtigste abgewaschen und und und...

Da es Freitag war, hat Lori entschlossen, bei mir zu übernachten. Ohne zu zögern überließ ich ihr die andere Hälfte meines Bettes. Schon um halb zehn wurde ich müde und wir beide beschlossen, ins Bett zu gehen. "Diese Woche war aber auch wirklich anstrengend", sagten wir beide. Wir plauderten noch eine Weile, doch nach kurzer Zeit schliefen wir beide auch schon tief und fest, Seite an Seite.

Der Mann weinte. Tränen fielen wie ein Regenschauer auf den Boden. Er stand auf dem Dach des Treppenhauses. Wie ein Wolf blickte er auf den Himmel. "Helen.. Holly, warum habt ihr mich alleingelassen?" Seine Stimme war brüchig und er schluchzte. "Warum?", waren seine Worte. "Warum musstet ihr sterben?" Er blickte auf den Grund. Zwischen ihm und dem Boden waren locker zwanzig Meter Abstand. Er breitete die Arme aus und ließ sich fallen, einfach fallen, leicht wie eine Feder...

Müde öffnete ich die Augen. Draußen war es erstaunlich laut. Auch Lori setzte sich stöhnend auf und rieb sich die Augen, während sie genervt murrte: "Wer schreit denn da herum?"
Ich realisierte, dass es keine Schreie waren, sondern Sirenen. Sofort war ich wach und sprang vom Bett auf. Lori sah mich fragend an. "He-hey, Maddie! Wo gehst du hin?", stotterte sie.
Ich ignorierte ihre Frage und schlüpfte in meine Schuhe. Mir war das vollkommen egal, ob ich noch im Pyjama war. Mir wäre es auch egal gewesen, wenn ich nackt war.
Ich hastete die Treppe runter und wäre fast hingefallen.
Als ich die Tür des Treppenhauses aufriss, sah ich bereits, was sich hier abspielte.

Die ganze Hauswand war abgesperrt. Polizisten untersuchten den Toten, der neben der Hauswand lag. Sein Kopf war komisch abgewinkelt: Er hatte sich das Genick gebrochen. "Was ist denn passiert?", fragte ich geschockt. Ein Polizist zögerte. "Kannten sie diesen Mann?"
Ich schüttelte den Kopf, wusste aber bereits, dass er aus meiner Nachbarschaft war. Ich sah ihn sehr oft. Er war sehr aktiv in der Arbeit: Jeden Morgen, als ich auf dem Weg in die Schule war, verließ er seine Wohnung ebenfalls, schön ordentlich in einem Anzug gekleidet.
"Er hat Selbstmord begangen. Allerdings ist es noch nicht klar, weshalb." Dann räusperte sich der Polizist. "Es tut mir Leid, aber ich muss jetzt weiterarbeiten. War mir eine Freude." Er zückte sein Telefon hervor und seufzte, als er eine Nummer eintippte. Jemand nahm ab, denn der Polizist sagte:

"Guten Tag, Miss. Sind sie.. Helen DeWitt? Es geht um ihren Mann. Es tut mir Leid, das sagen zu müssen, aber..."

Den Rest verstand ich nicht mehr. Langsam ging ich wieder die Treppen hinauf.
Ich musste sofort herausfinden, was hier vor sich ging.

Remnants Of DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt