Ich erinnerte mich an einen Schrei, aber nicht an den Aufprall im Wasser. Ich hörte nichts. Es windete stark, meine Haare waren wirr in der Luft. Meine Augen waren geschlossen. Ich schwebte. Fielen wir noch?
Ich öffnete sie.
Ich sah den Himmel. Er war dunkelgrau. Ein Sturm zog sich auf.
Dann... sah ich Quint. Er sah nach vorn, suchte nach etwas. Der Wind fuhr durch seine Haare. Seine Augen leuchteten rot.
Er trug mich.
Er sah auf mich herab. Lächelte dann. Sein Lächeln war frech.
Ich spürte einen Wassertropfen auf meiner Nase. Noch einen. Ich sah auf.
Wir befanden uns auf dem Wasser.
Quint lief darauf. Er fiel nicht rein, in den dunklen, kalten See.
Ich war zu müde, um darauf zu reagieren.
"Menschlein, du musst wach bleiben."
Ich konnte nicht einordnen, ob er das besorgt oder fordernd meinte.
Meine Augen wurden schwer. Die Dunkelheit siegte über mich und ich schlummerte weiter in der endlosen Finsternis.Das nächste, was ich hörte, war ein knackendes Geräusch, als wären tausende winzige Knochen gebrochen worden.
"Wir müssen es ihr sagen."
"Dann wird sie wieder weglaufen."
"Wenn sie weiß, was hier alles passiert, dann bleibt sie sicher bei uns."
Auch wenn ich nur Wortfetzen hörte, wusste ich dass es Quint und Lynx waren, die redeten. Aber beide Stimmen waren so ähnlich und ich war so müde, dass ich nicht wissen konnte, wem welche Stimme gehörte.
"Sie wird es uns sowieso nicht glauben!"
Ich öffnete die Augen. Ich lag auf einer Wolldecke. Ich roch den Geruch von Tannennadeln und Tau. Vor mir war ein Feuer, daher kam das knackende Geräusch.
Um das Feuer saßen Quint und Lynx. Sie bemerkten mich nicht.
"Wenns sein muss, lasse ich-"
Ich setzte mich auf. Die Beiden sahen mich an. Lynx' Augen strahlten orangefarben in dem Feuer.
Ich rieb mir den Kopf. Er pochte stark. Meine Finger waren eiskalt, ich spürte sie fast nicht mehr.
"Wie gehts dir?"
Lynx näherte sich mir vorsichtig. Ich seufzte.
"Naja, abgesehen davon, dass meine Finger taub sind, ich dreißig Meter in den Abgrund mitgerissen wurde und dass ihr mich entführt habt... Ganz okay."
Lynx sah den Schwarzhaarigen entgeistert an. Diese Aktion hatte wohl nicht zum Plan gehört. Doch Quint zuckte nur die Schultern. "Ich musste ein wenig improvisieren. Ethan durchkreuzte meine Pläne."
Ich schnitt eine Grimasse und schnaubte.
"Ooooh-kay." Lynx kratzte sich am Kopf.
"Über was habt ihr geredet?", fragte ich.
"Gar nichts", sagten die Beiden im Chor.
Ich hob eine Augenbraue.
Quint seufzte. "Erwischt. Wir hatten vor, Prim zu überraschen. Sie hat bald Geburtstag, weißt du." Er sah auf den See.
"Aha." Er log, das sah ich sofort.
Ich sah mich um. "Wo sind wir?", fragte ich neugierig. Ich sah einen See und rundherum nur Wald. Erst jetzt fiel mir auf, dass neben der Feuerstelle zwei Zelte waren. Ein rotes und ein gelbes.
Lynx antwortete mir.
"Wir sind im Wald von Korruk, ganz nahe von Capital City. Hinter diesem Hügel", er deutete auf eine Wiese mit einem Baum,
"ist die Stadt. Dort ist auch eine Tankstelle, falls du Mal was brauchst." Er lächelte mich an.
Ich nickte. "Danke."
Dann stand ich auf. Ich klopfte den Dreck ab von meiner Hose.
"Ich geh' mal zur Tankstelle. Schauen, was es dort alles gibt." Lynx machte einen Schritt auf mich zu. Ich wusste sofort, auf was er ausging. Er dachte, das wäre ein Fluchtversuch.
Doch Quint kam mir erstaunlicherweise entgegen.
"Mann, gib dem Menschlein doch Mal ein wenig Freiraum! Sie braucht das. Außerdem mag sie mich viel mehr als dich, darum hätte sie mehr Freude an meiner Gesellschaft", er zwinkerte mir kurz zu und wackelte die Augenbrauen, "als an deiner."
Ich grinste.
"Quint hat recht", stimmte ich ihm zu.
"Ich darf mit denen Leuten gehen, mit denen ich will. Also", ich nickte Lynx zu,
"Hättest du Lust?"
Sichtlich erfreut über die Entscheidung nickte Lynx.
Während wir weggingen, hörte ich ganz deutlich, wie Quint sagte:
"Oh. Mein. Gott. Ich fasse es nicht. Sie hat mich sitzengelassen."
Ich musste lachen. Auch Lynx grinste. Wir gingen Seite an Seite. Der Hügel war nach fünf Minuten passiert und ich sah schon die Straße, auf welcher die Tankstelle war. Sie war klein und schäbig, doch ich freute mich noch über einen Anschluss der Stadt. Hinter der Tankstelle sah ich den See von Capital City. Ich entdeckte die Brücke, von welcher ich und Quint sprangen. Als ich zurück zur Stadt sah, sah ich, dass Rauchschwaden von dort in die Luft stiegen, doch das waren sicher die Fabriken der Stadt.
Lynx bemerkte meine Freude, denn er lächelte und sagte: "Keine Angst, wir werden bald zurückkehren."
Ich nickte und wir betraten den Laden.
Drinnen war es schöner als draußen. Der Fliesenboden war zwar nicht der neuste, doch alles schien gut in Ordnung zu sein. Nirgendwo war Dreck zu sehen. Ein alter Mann stand an der Kasse und rauchte.
Ich ging das Sortiment durch. Hier gab es fast alles, was man brauchte.
An der Kasse waren die Zeitschriften. Normalerweise las ich nie die Zeitungen durch.
Doch ein Artikel sprang mir ins Auge.Capital City: Die Stadt steht am Abgrund
Ich griff nach der Zeitung und der Mann sah mich missbilligend an. Doch das war mir egal. Ich las den Artikel durch.
Nach den zahlreichen Attentaten an den verschiedenen Orten, wie zum Beispiel des Capital City Lunatic Asylums oder der Schule von Capital City, wurde die Stadt nun evakuiert. Bewohner der einst schönen Stadt fliehen in alle Richtungen. Ein Journalist des Capital City Newspapers war am Ort des Geschehens und sagte nichts Anderes als: "Die Hölle wurde erschaffen." Er erlitt einen Nervenzusammenbruch und wurde ins Krankenhaus gebracht. Dreihundert der Anwohner von Capital City werden heute noch vermisst.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Unter dem Artikel war ein Bild zu sehen. Es zeigte die Stadt. Häuser lagen in Trümmern, die sonst vollen Straßen waren verlassen und einsam. Bäume und Straßenlampen waren umgestürzt.
Lynx stand hinter mir. Er wusste das wohl schon, denn ich hörte keine Reaktion von ihm.
"Wie lange habe ich geschlafen?", fragte ich ihn nervös. Er sah mich an. "Zwei Tage", sagte er. "Wir dachten, dass du nie aufgewacht wärst."
Am liebsten wäre ich das.
DU LIEST GERADE
Remnants Of Darkness
Mystery / ThrillerDie Welt von Madeline gerät langsam aus den Fugen, als ihre geliebte Heimat Capital City dem Untergang geweiht ist. Eine mysteriöse Krankheit breitet sich aus: Menschen sterben an ihrer größten Angst oder verlieren vollkommen den Verstand. Hat Ethan...