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"Hey, hast du es schon erfahren?"
"Schon gehört?"
"Kannst du es auch kaum fassen? Es sind zwei Tote!"

Genervt hielt ich mir die Ohren zu, während ich durch den Korridor zu meinem Spind eilte. Meine Gummistiefel waren von den vielen Pfützen ganz schmutzig geworden, weshalb ich eine dunkle Schlammspur auf dem sauberen Linoleumboden hinterließ. Zwar hatte ich die Kapuze meiner gelben Fischerjacke über den Kopf gestülpt, doch ich hatte trotzdem nasse Haare.

"Regen ist eine Schweinerei."

Das hätte jetzt wohl meine Mutter gesagt, wenn sie hier wäre. Sie hasste den Regen. Immer blickte sie aus dem Fenster, wenn es schiffte. In ihren Augen war die Verachtung zu sehen. Für sie war das nichts anderes als ein "Sauwetter".

Doch mein Vater sah den Regen ganz anders als meine Mutter. Generell hatte ich das Gefühl, dass er alles mit anderen Augen sah. Er liebte den Regen. Vom Regen wurde er glücklich. Wenn es in der Nacht einen riesigen Sturm gab, konnte man ihn am Fenster sehen, wie er, in seinen Augen eine Mischung aus Faszination und Ehrfurcht schimmernd, nach draußen sah. Die Blitze spiegelten sich in ihnen wider.

Es schien wohl so, dass ich meine Ansicht mit meinem Vater teilte. Auch ich mochte den Regen. Das prasselnde Geräusch und das Knallen des Donners versetzten mich in eine Stimmung, bestehend aus Faszination und Angst. Gewitter waren immer wunderschön, aber gleichzeitig auch mächtig. Sie konnten Häuser in Brand versetzen und Menschen töten, so stark waren die Blitze, die die dunklen Wolken schleuderten. Jedes Mal bekam ich Panik, wenn ich mich draussen aufhielt und das Wetter tobte. Zu gross war die Angst, von einem Blitz getroffen zu werden. Aber das war früher so. Heute hatte ich sie überwunden. Meine grösste Angst war nicht mehr das Gewitter. Mein Herz wurde schwer, als ich an meine Eltern dachte.

Ich wurde von meinen Gedanken gerissen, als meine beste Freundin Lori auf mich zustürmte. "Maddie!", quietschte sie.
Manchmal fragte ich mich echt, wie sie nur so munter und fit sein konnte um diese Zeit. Lori blieb vor mir stehen und musterte mich kurz.
Ich wusste genau, dass sie meine Fischerjacke nicht mochte. Doch das war mir egal. Mich interessierte es allgemein nicht, was Andere von mir dachten.
Loris Augen fixierten nach einer Weile wieder die meinen. Sie war eine richtige Plaudertasche. Manchmal fand ich Lori wirklich etwas gruselig, weil sie alles über jeden wusste.
"Was ist denn?", fragte ich sie. "Lass mich raten, es hat wieder mit diesem Gerücht zu tun, oder?" Lori nickte, in ihren grauen Augen sah man die Energie, die sie ausstrahlte.

"Heute Morgen wurde die Leiche von einer Frau und deren Tochter gefunden. Die Mutter war klitschnass!"

Ich verdrehte automatisch die Augen und öffnete meinen Spind. An der Tür hatte ich einen kleinen Spiegel befestigt. Ein müdes Gesicht blickte mir entgegen. Die Haut meines Spiegelbildes war fast weiß und die Sommersprossen auf Wangen und Nase sahen aufgemalt aus. Unter meinen grünbraunen Augen waren tiefe Ringe zu sehen. Meine kurzen, blonden Haare waren verstrubbelt.
"Und jetzt? Was ist daran so besonders?", fragte ich etwas genervt, während ich mein Geschichtsbuch aus meinem Spind herauskramte.
Lori zögerte. Sie blickte auf den Boden.
"Die Frau und ihr Kind.." sie rieb sich über den Kopf,

"Sie wohnten in deiner Nachbarschaft."

Ich hielt inne. Eine Frau und ein Kind sind also gestorben. "Komisch, dass alle das vor mir erfahren haben, wenn sie in meiner Nachbarschaft wohnten", bemerkte ich. "Wie hießen die beiden denn?"
Lori rückte ihre Hornbrille, die ihr viel zu gross war, zurecht und kramte ihr Asthma-Gerät hervor. Sie atmete tief ein und verstaute es dann wieder in ihrer Tasche. "Ich weiß es nicht. Darum hoffte ich, dass du es wissen würdest", entgegnete sie und sah mich an. Dann senkte sie den Blick und sagte kleinlaut: "Ich will einfach, dass du auf dich aufpasst."
Ein Grinsen huschte über mein Gesicht und ich schnaubte. "Hey, Lori, keine Sorge", beruhigte ich sie, "Mir wird nichts passieren, echt."

Die Schulglocke klingelte und ich stieß die Eingangstür auf. Mit schnellen Schritten verließ ich das Schulgebäude und blieb am Straßenrand stehen. Da kein Auto kam, überquerte ich sie, ohne die Ampel zu beachten. Ich sah auf und ein fetter Regentropfen landete auf meiner Wange. Der Himmel knurrte leise und mein Herz schlug schneller. Ich beschleunigte mein Schritttempo und eilte zum Eingang des Gebäudes, in der sich meine Wohnung befand. Ich kramte nach meinem Schlüssel und wollte so schnell wie möglich in mein sicheres Zuhause flüchten, doch dann hörte ich es. Es war ein Stimmengewirr. Es waren Wörter, die sich begegneten, die sich voneinander abprallten und wieder verschwanden.
"Oh Gott, warum nur, warum?"

Dieser eine Satz war lauter als die anderen. Er stach praktisch hervor. Ich drehte mich um und entdeckte die beiden Polizeiwagen, die genau vor dem Treppenhaus gegenüber von mir standen.
Ich blickte genauer hin. Einer der drei Polizisten, die ich entdeckte, sprach mit einer Frau. War das etwa Mrs. Shepherd? Ich kannte sie nicht allzu gut, doch sie lächelte mich immer an, wenn ich ihr auf der Straße begegnete. Aber was war denn passiert, dass sie so verzweifelt aussah?

Genau als dieser Gedanke durch meinen Kopf tigerte, entdeckte mich ein Polizist. Er kam auf mich zu. "Guten Tag", sagte er.
"Guten Tag."

"Wohnen sie hier?", fragte er und deutete mit einem Nicken auf das Treppenhaus. "Nein", sagte ich und schüttelte den Kopf, "ich wohne gegenüber von diesem Gebäude." Dann sah ich zu Mrs. Shepherd. Sie bemerkte mich nicht.
"Was ist denn passiert, Officer?"
Er seufzte und blätterte durch seinen Notizblock. "Kennen Sie Mrs. Hudson?", fragte er. Ich nickte zur Bestätigung.
Mrs. Hudsons Wohnung war genau gegenüber von mir, ich konnte durch das Fenster im Wohnzimmer in ihre Wohnung schauen.

"Heute Morgen wurde ihre Leiche im Schlafzimmer entdeckt. Ihre Tochter namens Mina wurde im Flur etwa drei Meter von Mrs. Hudson gefunden. Sie ist ebenfalls tot, doch sie war trocken."
Irgendetwas horchte in mir auf. Was hat Lori heute erzählt?

"Heute Morgen wurde die Leiche von einer Frau und deren Tochter gefunden... Sie wohnten in deiner Nachbarschaft."

Ich blinzelte. "An was..", ich schluckte, "sind sie denn gestorben?" Der Polizist runzelte die Stirn, als er an seinem Notizblock blätterte. "Mina starb an einem Herzinfarkt. Das steht fest."
Er rieb sich über die Augen. "Sie war doch erst sechs", murmelte er. Ich schluckte und der Polizist fuhr fort: "Bei Mrs. Hudson gibt es einige Unsicherheiten. Sie war klitschnass, als man sie fand.
Man geht davon aus, dass sie ertrunken ist."

Remnants Of DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt