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Ich nahm zwei Stufen auf einmal und hastete die Treppe hinauf. Zwar hatte ich mich nicht lange unter der Oberfläche aufgehalten, doch ich hatte das Bedürfnis, die Wärme des Sonnenlichtes auf meiner Haut zu spüren.
Als ich oben ankam, raubte es mir den Atem.
Die Gegend war noch immer menschenleer wie am ersten Tag, als ich mit den Anderen hierherkam. Zerknüllte Zeitungen wurden von dem Wind einige Meter davongetragen. Die Sonne schien durch ein klaffendes Loch von einem der zerstörten Gebäude. Mir wurde sofort warm ums Herz, doch die Atmosphäre ließ mich auch wieder erschaudern. Niemals konnte ich mich an diese Umgebung gewöhnen.
Kyra und ich liefen nebeneinander die Straße runter. Zerstörte Autos. Sie waren überall auf der Straße zerstreut. Kyra warnte mich, nicht in die Autos hineinzusehen, doch es war wie bei dem Beispiel mit dem pinken Elefanten.
Wenn dir jemand sagt, dass du nicht an einen pinken Elefanten denken sollst, dann denkst du trotzdem an einen.
So war es auch bei mir mit den Autos. Ich drehte den Kopf und sah tote Menschen, die man nicht erkennen konnte: Ihre Körper waren schon halb verrottet. Was mich noch mehr verstörte war, dass auch kleinere dabei waren.
Mir wurde schlecht und ich hatte einen Brechreiz. Kurz bevor mein Magen so richtig loslegen konnte, zog mich Kyra in ein Kaufhaus rein.
Auch hier war alles zerstört. Ständer, auf denen sich Postkarten oder Sonnenbrillen befanden, waren umgekippt. Vitrinen waren zersplittert, einige hatten Spuren von Blut.
Es roch verfault. Mir wurde wieder übel, doch es war im Entferntesten so schlimm wie auf der Straße. In der Einkaufspassage flackerte das Licht und strahlte somit eine unheimliche Atmosphäre aus. Scheinbar war ich etwas angespannt, denn Kyra kicherte und sagte: "Hey, du musst keine Angst haben, wir sind ja bei dir. Dir kann nichts passieren."
Wir?
Ich hörte den Zoom einer Kamera. War ja klar, dass nicht nur Kyra bei mir war.
"Darf ich euch fragen, warum ihr mich so streng im Auge habt?", fragte ich sie. Es hinterließ mir ein komisches Gefühl, dass der Captain mich nicht mit Kyra alleinlassen wollte.
Kyra runzelte die Stirn. "Warum wir dich beschützen, meinst du?", fragte sie.
"Das ist doch ganz einfach. Weil du das bist, was die Albträumer haben wollen. Hast du etwa vergessen, dass sie hinter dir her sind?"
Ich war mir sicher, dass sich mehr dahinter verbarg als nur das. Entweder verschwieg mir Kyra etwas oder sie wusste tatsächlich nichts. Ich entschied mich, sie nicht weiter mit Fragen zu durchlöchern.
Wir schlenderten durch die Einkaufspassage und entdeckten einen Supermarkt.
"Los, holen wir uns was zu futtern", sagte Kyra.
Die meisten Regale waren schon geplündert worden. Manche Dosen lagen auf dem Boden, der Inhalt war zum Teil ausgeleert.
Ich blickte zur Decke hinauf. Die Laternen leuchteten noch, kein einziges Licht flackerte.
"Kaum zu glauben, wie lange diese Lampen schon an sind", sagte ich heiser.
Kyra lächelte, als sie eine Dose vom Regal nahm. "Wir wechseln die Glühbirnen aus", sagte sie. Ich sah sie fragend an. Sie begann zu erklären: "Die Lampen zeigen, ob Albträumer in der Nähe sind. Sind sie es, dann zerspringen sie. Die Albträumer hassen nämlich das Licht, deshalb zerstören sie es. Du solltest dich mal in Undertown achten. Überall brennen ununterbrochen Lampen. Lass darum auch in deiner Kammer das Licht an, wenn du ins Bett gehst."
Ganz schön klug.
Ich sah die Laternen verwundert an.
"Wisst ihr, wo sich die Albträumer aufhalten?", fragte ich. "Vielleicht haben sie wie ihr ein Versteck."
Kyra überlegte, dann schüttelte sie den Kopf.
"Ich glaube nicht. Sie sind überall, in jedem Teil von Capital City. Wir wissen nicht, ob sie, wie wir mit Undertown, ein Versteck haben. Vielleicht hausen sie in einem der Wolkenkratzer, aber wir müssten herausfinden, wo sie sind."
Ich schluckte. "Habt ihr Kameraaufnahmen von den Albträumern?"
Kyra nickte. Ihre Augen blitzten auf.
"Ich kann sie dir zeigen, wenn du willst. Aber dann müssen wir zurück nach Undertown", erklärte sie.
"Ja, das wäre super!"
Wir verließen den Supermarkt mit vollen Einkaufstüten. Die Deckenlampen flackerten für einen Augenblick.

Der Captain war beschäftigt. Er saß in seinem Büro und hatte sich über eine Karte von Capital City gebeugt. Er rauchte eine Zigarre. Als Kyra ihn um Erlaubnis bat, die Videoaufzeichnungen vom "Gebäude 3C" zur Verfügung zu stellen, winkte er ab, ohne einmal aufzusehen. Sie bedankte sich und wir liefen los. Auf dem Weg zum Überwachungsraum fragte ich Kyra, was der Captain machte.
"Er sieht sich den Stadtplan an", verriet sie mir. "Er schickt eine Patrouille, die neue Überwachungskameras installieren soll. Bei manchen Gebieten sind wir immernoch blind und wissen nicht, was vor sich geht."
Ich fragte mich, ob ich mitgehen dürfte. Doch kaum konnte ich daran denken, hielt Kyra abrupt an und ich stieß gegen sie. Sie kicherte und öffnete die Tür. Den Raum, den wir betraten, hatte ich noch nie gesehen. Er war mit vielen Computern ausgestattet, an denen Leute saßen und arbeiteten. Die Bildschirme zeigten Orte an, die ich zum Teil kannte.
Kyra steuerte auf ein Regal zu und hob die Hand, während ihre Augen durch die vielen Kassetten zuckten.
"So, welche war es denn.. Ah!"
Sie zuckte eine Kassette heraus und betrachtete sie. Dann ging Kyra zu einem Kassettenspieler, legte sie rein und ließ das Band abspielen.
"Diese Aufnahme war vor einigen Wochen. Ein paar unserer Männer waren auf Patrouille", erklärte sie mir und sie spulte mit der Fernbedienung ein wenig vor.
Ich erkannte den Ort, das Überwachungsvideo stammte vom Einkaufszentrum, wo Kyra und ich vorhin gerade noch waren. Drei Männer waren zu sehen. Sie befanden sich vor dem Supermarkt, standen im Kreis und schienen über etwas zu diskutieren, als einer plötzlich den Kopf hob, verängstigt die Augen aufriss, auf etwas zeigte und losbrüllte. In einer Sekunde hatte jeder seine Waffe gezückt, doch der Angreifer war schneller. Es war eindeutig ein Albträumer. Er bewegte sich so schnell, dass es nicht mehr menschlich war.
Der Albträumer warf einen zu Boden. Er hatte ein Messer bei sich, mit dem er mehrmals in die Brust des Einen stach.
Mein Magen zog sich zusammen. Die Beiden anderen Männer schossen mit den Pistolen auf den Albträumer, doch die Kugeln verfehlten ihn. Der Albträumer hob die Hand und ein schwarzer Nebel erschien um einen der beiden Männer. Er fing an zu schreien und richtete die Pistole mit zitternden Händen auf seine Schläfe.
Mit einem Kopfschuss fiel er auf den Boden.
Heilige Scheiße.
Der dritte Mann versuchte zu rennen. Er sprintete geradewegs auf die Kamera zu, doch der Albträumer war schon über ihn hergefallen. Mir gefror das Blut in den Adern. Die Beiden befanden sich direkt vor der Kamera. Der Mann lag auf dem Rücken und der Angreifer saß auf seinem Schoss. Er fuhr mit einer Hand über die Wange. Mir stockte der Atem.
Der Albträumer war ein Mädchen.
Das Mädchen war schlank, nein, mager. Es hatte blaue Haare und es starrte den Mann mit großen, roten Augen an.
Und dieses Grinsen. Es war mehr als eine Fratze, als würde es ihr Spaß machen, sogar ihre eigenen Eltern zu töten.
Mein Herz schien stillzustehen.
Der Mann fing an zu schreien, als das Mädchen ihm wieder und wieder das Messer in die Brust rammte. Das Mädchen lachte schrill. Blut quoll aus dem Körper des Mannes. Irgendwann war er tot, doch es stach nur weiter, und weiter, und weiter, und weiter, und weiter...
Nach einer Weile stand das Mädchen schließlich auf und wischte das Messer ab. Dann drehte es sich um und verließ das Einkaufszentrum. Dabei hüpfte es wie ein unschuldiges kleines Kind, welches Blumen gepflückt hatte.
Kyra wollte mich fragen, ob ich noch ein weiteres Video schauen wollte, doch ich lehnte ab. Dass solche Leute hinter mir her sind...
Ich konnte mir schon vorstellen, was sie mit mir machen würden.

Ich öffnete die Augen und gähnte. Wie spät war es?
Ich muss wohl eingeschlafen sein. Meine Kammer besaß keine Fenster und ich hatte auch keine Uhr bei mir. Nachdem Kyra mir diese schreckliche Aufnahme gezeigt hatte, verbrachte ich den Rest des Tages in meinem Zimmer und bin auch nicht zum Abendessen erschienen. Ich hätte mich wahrscheinlich sowieso übergeben müssen, denn mein Appetit war weg. Alles, an das ich denken konnte, war das Schmatzen des Messers, als es sich in die Brust des Mannes grub...
Ich rieb mir die Augen und sah mich in der Dunkelheit um.
Moment mal. Hatte ich nicht das Licht angelassen als ich schlafen ging?
Ich kroch auf dem Bett zum Lichtschalter und knipste ihn an. Nichts passierte.
Verwirrt runzelte ich die Stirn und stand auf. Plötzlich durchzuckte mich der Schmerz durch den Fuss. Ich holte erschrocken nach Luft und plumpste zurück in mein Bett. Als ich ihn berührte, spürte ich etwas Hartes und ich hatte klebrige Finger.
Ich war auf eine Scherbe getreten.
Darum sprang die Lampe nicht an.
Meine Nackenhaare stellten sich auf. Waren Albträumer in der Nähe? Warum war es draußen so still?
Mein Fuß pochte. Ich packte die große Scherbe, die in meinem Fleisch steckte, und zog sie heraus. Ich konnte den Aufschrei fast nicht unterdrücken.
Dann krabbelte ich wieder aus dem Bett und achtete diesmal darauf, nicht auf eine weitere Scherbe zu treten. Als ich bei der Tür war, öffnete ich sie einen spaltbreit.
Nichts war zu sehen. Überhaupt nichts.
Es war so dunkel, dass ich kaum die eigene Hand vor meinem Gesicht sehen konnte.
Humpelnd trat ich aus meiner Kammer heraus. Es war totenstill. Wo waren die Anderen? Wo war der Captain, wo war Kyra?
Ich beschloss, zuerst zu einem Verbandskasten - ja, es gab hier auch ein Krankenzimmer - zu gehen.
Ich hinkte den Flur entlang. Dabei begegnete mir keine Menschenseele. Ich hielt mich an der Wand fest, als ich mich blind durch den Flur tastete und langsam vorankam. Nach einer Weile erreichte ich eine Tür. Darüber war ein Schild mit einem Kreuz abgebildet. Es war das Krankenzimmer.
Leise öffnete ich die Tür und schlüpfte hinein. Ich wollte möglichst unbemerkt bleiben und keine Geräusche verursachen. Wer weiß, vielleicht war hier jemand - Die Frage war, ob er zu meinen Feinden gehörte oder nicht.
Nachdem ich das Verbandszeug gefunden und meinen Fuss verarztet hatte, machte ich mich auf den Weg. Aber nicht zur großen Halle von Undertown, sondern zum Überwachungsraum. Glücklicherweise war er gerade in der Nähe.

Die kleinen Lichter an den Computern blinkten noch, als ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen ließ. Ich startete den Computer und musterte die Bildschirme, die auf einer Wand ganz verteilt waren. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Computer bereit war, mir die Bilder zu zeigen.
Aber ich war noch nicht bereit, sie zu sehen.

Remnants Of DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt