Ein zischendes Geräusch weckte mich auf. Ich öffnete die Augen. Mein Mund war trocken und mein Körper schlaff. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich noch, ich wäre in dieser Betäubung verfallen, doch dem war nicht so. Ich sah mich um. Ein paar Meter vor mir war eine schwere Eisentür. Über mir pfiff Dampf aus einem Rohr.
War ich in einem Keller? Ich spürte kaltes Metall um meine Handgelenke. Meine Füße konnte ich auch nicht bewegen. Ich rüttelte an den Handschellen.
Die Stahltür wurde mit einem metallischen Schrei geöffnet. Ich erkannte den Mann, als er sich mir vorsichtig näherte. Sein braunes Haar war matt in dem schwachen Licht und sein Bart war gut gepflegt. Er hatte einige Falten, sah aber trotzdem jung aus. Seine braunen Augen sahen mich hart und direkt an. Er war der Anführer. Er hatte die Männer auf mich und die anderen gehetzt.
"Du bist wach." Seine Stimme verriet mir, dass er es schon erwartet hatte. Ich sah an die Decke - und entdeckte eine Kamera. Sie hatten mich im Auge. Hatten jeden meiner Atemzüge überwacht. Ehe ich den Blick wieder abwenden konnte, fielen meine Handschellen klingelnd auf den Boden. Auch wurde ich von den Fussfesseln befreit. "Komm mit", sagte er mit tiefer Stimme. Ich wusste nicht, ob ich ihm trauen konnte. Doch hatte ich überhaupt eine Wahl? Widerwillig folgte ich ihm.
Als wir den gruseligen Keller verließen, befanden wir uns in einem Gang. Ich musterte die Umgebung, dabei suchte ich nach einem Ausgang. Da sind überall Türen und Abzweigungen. Wie sollte ich mich hier orientieren kön-
"Vergiss es." Er schien amüsiert.
Den Kopf hängend folgte ich ihm.Erst als wir in der Haupthalle waren, wusste ich, wo wir uns befanden:
Es war die Metro von Capital City.
Wir befanden uns in der großen Halle der Metrostation. Sie war rund und hatte Säulen.
Viele Läden waren hier, unter anderem ein Supermarkt, ein Café, ein Süßigkeitenladen und sogar ein kleines Klamottengeschäft. Allerdings waren die Fenster eingeschlagen und die Geschäfte bis aufs letzte geplündert.
Hier waren viele Menschen. Sie sahen mich an, manche feindlich, manche voller Hoffnung.
Es waren zu viele Leute, die mich verfolgen konnten, falls ich wirklich entkommen würde. Ebenfalls waren die Eingänge zur Metro stark bewacht.
Ich blinzelte. Trugen diese Leute etwa Gewehre?
Hier waren also diese Leute, die in der Zeitung als verschollen galten."Willkommen in Undertown!", sagte der Mann. Er klang stolz.
Ein Junge lief an uns vorbei. Er nickte anerkennend mit dem Kopf. "Captain", sagte er zur Begrüßung. Mich würdigte er keines Blickes.
Der Mann nickte ihm zu. Anscheinend wurde er hier Captain genannt. War ja irgendwie logisch.
Er bog in einen Flur ab und ich trottete ihm hinterher. Dann hielt er vor einer Tür an und ließ mich eintreten. Der Raum war etwas größer als die Kammer, in der ich vorhin gefangen war. In der Mitte des Raumes war ein Tisch mit zwei Stühlen.
Ich setzte mich. Er nahm gegenüber von mir Platz. Als ich zur Seite schaute, zuckte der Schreck durch meine Adern.
An der Wand waren Monitore.
Ein Monitor zeigte das Gebäude, in dem ich mich mit den anderen befand.
Ich stand auf. Der Captain reagierte nicht.
Sie haben uns beobachtet. Haben jeden Schritt aufgenommen.
Ich trat auf den Bildschirm zu. Niemand war mehr dort. Ich sah sogar noch den Platz mit den Decken, worauf ich geschlafen hatte. Als wäre das alles vor fünf Minuten passiert. Ich fing an zu brodeln.
"Was wollt ihr von mir?", fragte ich leise.
Der Captain legte seine Hände auf den Tisch und seine Finger verschlangen sich ineinander.
"Wir wollen dir helfen", antwortete er.
Ich drehte mich zu ihm um.
"Ja klar. Darum habt ihr mich auch von meinen Freunden getrennt. Wo sind sie?!"
Der Captain zuckte die Schultern.
"Auf jeden Fall nicht mehr im Gebäude. Sie sind aus unserer Sicht."
Ich musste an meine Freunde denken. Quint, der so hilflos am Boden lag. So hatte ich ihn noch nie erlebt.
Und was war mit Lynx? Prim? Lori?
Und wo war Ethan?
Ich setzte mich wieder an den Tisch. Es war Zeit, aufzuklären.
"Du hast die Meldungen gehört?", fragte er.
Ich nickte.
Der Captain zupfte an seinem Ärmel herum. "Diese Albträumer sind hinter dir her. Leider wissen wir selbst nicht, wie es dazu kommt, dass du hier das Ziel von denen bist."
"Woher wussten Sie, wer ich bin?"
"Wir haben uns das selbst zusammengereimt. Der Name war uns bekannt: Madeline Fink. Im Schulbuch von Capital City haben wir sogar ein Foto von dir gefunden." Ich schnaubte.
"Dann mussten wir nur warten." Er lächelte.
Genial. Schon am ersten Tag in Capital City wurde ich geschnappt.
"Wir machen dir ein Angebot", sagte der Captain. Ich sah ihn an.
"Du hilfst uns, gegen den Aufstand der Albträumer zu kämpfen. Wir wollen niemanden töten, wir wollen nur, dass es nicht eskaliert und schließlich zu einem Krieg führt. Du darfst dich hier frei bewegen, ich erlaube dir auch, an die Oberfläche zu gehen." Er hob einen Finger. "Aber dann nur mit Begleitung. Du schläfst nur hier, nirgendwo sonst. Wenn du deine Freunde triffst, dann stellen wir ihnen auch ein Zimmer frei."
Ich durfte nach oben. Ich durfte zu den Anderen, wenn ich wollte.
"Abgemacht", sagte ich.
Der Captain lächelte zufrieden.
"Gut." Er schob seinen Ärmel hoch und ich entdeckte ein Gerät, welches um sein Handgelenk verschlungen war. Es ähnelte einer Uhr. Er drückte auf einen Knopf.
"Kyra? Kommst du bitte her?"
Eine Tür öffnete sich und ein Mädchen kam herein. Ihre Haare waren lila, so wie ihre Augen. Sie trug einen hautengen Anzug, welcher halb wie eine Ritterrüstung und halb wie ein Weltraumanzug aussah.
Sie lächelte mir zu. "Hi", sagte sie.
"Freut mich, dich kennenzulernen."
"Äh, die Freude ist ganz meinerseits", erwiderte ich.
"Das ist Madeline. Du wirst dich um sie kümmern und sie beschützen", erklärte der Captain.
"Egal was passiert."
Kyra nickte und ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals.
Der Stuhl ächzte, als ich aufstand. Ich wollte so schnell wie möglich von hier weg.
Der Captain schien das bemerkt zu haben.
Er sah mich an und schüttelte den Kopf. "Noch kannst du nicht gehen", sagte er.
"Zuerst müssen wir bei dir noch etwas... verändern."Ich saß auf einem bequemen Stuhl und betrachtete die Umgebung. Der Raum, in dem Kyra und ich uns befanden, sah aus wie ein Theater.
Links und rechts von mir befanden sich Perücken und Scheren, ich entdeckte ein Regal mit Färbungsmittel und als ich in den Spiegel schaute, konnte ich sehen, dass sich hinter mir ein Berg von Klamotten befand.
"Das machen wir hier mit allen Leuten", erklärte mir Kyra, als sie nach einer guten Schere suchte.
"Wir müssen sie immer etwas... naja... aufpeppen, bevor sie auf die Oberfläche können, also auch bei dir."
"Woher habt ihr all das Zeug?"
"Wir machen manchmal patrouillen, um an die Oberfläche zu gehen. Dort suchen wir nach Nahrungsmittel und anderen nützlichen Dingen", erklärte sie mir.
Als sie nach irgendwelchen Wünschen fragte, schüttelte ich den Kopf. Ich war zu aufgewühlt, um mich für eine Haarfarbe zu entscheiden.
Kyra überlegte lange, bevor sie zu ihrem Werkzeug griff. Ich schloss die ganze Zeit die Augen, denn sie sagte, es wäre so eine größere Überraschung für mich.
Eigentlich schloss ich die Augen nur, weil ich Angst hatte, wie das enden würde, denn sie schnitt mir nicht nur die Haare, sondern gab mir Kontaktlinsen und Kleidung mit dazu. Sie drehte mich sogar extra vom Spiegel weg, damit sie mir die Kontaktlinsen in die Augen setzen konnte, ohne dass ich mich im Spiegel sah."Et vois-lá!"
Als ich meine Augen öffnete, glaubte ich zuerst nicht, wie ich mich verändert hatte. Meine Haare waren nicht mehr blond, sondern sie waren ein dunkles grün. Meine Augen hatten auch nicht mehr dieselbe Farbe; stattdessen waren sie fast gelb. Die Farbe erinnerte mich an Lynx, weshalb ich einen kleinen Stich im Herz verspürte. Meine Haut war noch immer weiß wie eine frisch gestrichene Wand. Ich steckte noch in meinen engen schwarzen Leggings und im schwarzen Kapuzenpullover. Als mein Spiegelbild mich angrinste, sagte ich zu Kyra: "Du hast Talent!"
Zufrieden legte sie die Haarbürste weg.
"Ja, kann man wohl sagen."Bevor Kyra und ich an die Oberfläche gingen, beschlossen wir beide, etwas zu essen. Kyra schlug vor, mich noch etwas herumzuführen, sodass ich wusste, wo die wichtigsten Stützpunkte waren. Die Leute, die hier unten lebten, gingen nicht mehr an die Oberfläche um an ein Ziel zu gelangen, sondern bewegten sich durch die Tunnel fort. Ich konnte mich noch immer nicht gut an diesem Ort orientieren. Es gab so viele Gänge, die alle fast gleich aussahen.
Als allererstes zeigte mir Kyra mein Zimmer. Es war nicht besonders groß. In der Mitte befand sich ein Bett und rechts davon ein Schrank. Neben dem Eingang war ein Spülbecken.
"Es ist nicht viel, aber ich hoffe, du kannst dich damit anfreunden", sagte Kyra und lächelte.
Ich wusste nicht, ob ich Kyra trauen konnte. Überhaupt hatte ich keine Ahnung, welche Rolle der Captain hier spielte. Doch was sollte ich sonst tun? Ich konnte nicht einfach abhauen. Dann wären nicht nur die Albträumer, sondern auch die Leute aus Undertown hinter mir her. Und nach dem letzten Mal zu urteilen konnten sie mich ziemlich schnell einfangen.
Also beschloss ich, für eine Weile mitzuspielen.
Wir verließen das Zimmer und Kyra zeigte mir auch andere Orte, unter anderem die Krankenstation, die Toiletten, die Waffenkammer und sogar ein Schiessstudio, wo sie oft trainierte. Dann gingen wir zur Kantine von Undertown. Dort assen wir Tomatensuppe mit einer Scheibe Brot. Es war zwar nicht das beste Essen, doch ich konnte nicht genug davon haben: Ich hatte schon lange einen derben Hunger.
Wir beendeten unsere Mahlzeit und Kyra zeigte mir noch den Fluchtplan, im Fall dass Albträumer hier hineinspazieren würden. Dann begaben wir uns zu einem Ausgang der Metro. Eine Treppe führte nach oben.
"Warte hier."
Kyra schlich die Treppen hinauf und bog nach rechts ab. Dann konnte ich sie nicht mehr sehen.
Es dauerte einige Minuten, bis sie wieder da war. "Die Luft ist rein", hauchte sie mir zu und ich tappte die Treppe nach oben.
Wir verließen die Metro.
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Remnants Of Darkness
Mystery / ThrillerDie Welt von Madeline gerät langsam aus den Fugen, als ihre geliebte Heimat Capital City dem Untergang geweiht ist. Eine mysteriöse Krankheit breitet sich aus: Menschen sterben an ihrer größten Angst oder verlieren vollkommen den Verstand. Hat Ethan...