Prolog

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Ein Lied. Es besteht aus Tönen, Melodien, Rhythmen, Akkorden. Auf dem Papier scheint es simpel. In Wahrheit ist es komplex. Niemand sieht, was alles hinter einer Komposition steckt. Wie viel Emotionen darin verborgen sind. Wie viele Gefühle darin schlummern. Niemand weiss, wie es zu den Melodien kam. Niemand fragt, was es mit den Harmonien auf sich hat und warum gerade diese Töne gewählt wurden. Vielleicht analysieren Spezialisten die Noten und ziehen ihre Schlüsse. Ich zweifle nicht ihre Ausbildung oder ihr Können an, aber sind fremde Personen wirklich fähig, zu sehen, was hinter einem Stück, hinter einem Lied wirklich steckt? Kann irgendjemand überhaupt verstehen, wie der Komponist vorgegangen ist, welche Motive ihn dazu verleitet haben, gerade diese eine spezielle Melodie niederzuschreiben? Ich glaube nicht.

Ich sehe die Noten vor mir an und streiche mit den Fingern darüber. Es kommt mir vor, als würde ich die ganze Wut, all die Tränen und die unzähligen Streitereien darin spüren. Ich fahre über die Notenlinien, über seine kraklige Handschrift, dann über meine pingeligen Verbesserungen. Ein Lächeln tritt auf mein Gesicht, als ich die Stelle erreiche, wo deutlich ein Loch im Papier zu spüren ist. Die Erinnerung an diesen Moment ist so stark, dass ich beinahe sein Lachen hören kann. Es kommt mir fast so vor, als sässe er gerade jetzt neben mir auf dem grossen Bett in seinem Zimmer, würde mir über die Schulter schauen und sich über meine unförmigen Notenköpfe lustig machen. Ich würde ihn in die Seite zwicken und versuchen glaubwürdig zu wirken, während ich ihn zurecht weise. Er würde nur grinsen und seine Arme um mich schlingen.

Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, als jemand meinen Namen sagt. Ich bin weder in seinem Zimmer, noch sitzt er neben mir. Es war bloss eine Erinnerung. Er ist nicht hier. Als mir das bewusst wird, gibt es mir einen heftigen Stich. Er ist weg.

Ich nehme die Komposition und verstaue sie in meiner Tasche, bevor ich meiner Freundin zum grossen Konzertsaal folge.

Ich habe nicht einmal die ganze Komposition. Ich habe nur einen Bruchteil davon. Wir haben geteilt. Er hat die andere Hälfte. Das Stück hat noch nicht einmal einen Namen. Es ist so unvollendet, obschon wir den letzten Akkord vor vier Jahren niedergeschrieben haben. Es ist nicht fertig und ich mache mich kaputt damit, darüber nachzudenken, was fehlt. Ich werde keine Antwort mehr finden, denn eigentlich kenne ich die Antwort längst. Sie ist so banal und offensichtlich. Es ist nicht etwas, das fehlt, es ist jemand, der fehlt. Er fehlt. Er ist nicht hier und er wird auch nicht einfach hier auftauchen, egal wie sehr ich mir das wünschen würde.

„Na los, komm schon!", drängt mich meine Freundin ungeduldig, weil ich vor der Cafeteria stehen geblieben bin. Das Pärchen, das am Fenster sitzt und lacht, erinnert mich wieder an ihn. Wieso konnte er nicht einfach auch hier bei mir sein?

„Willst du echt den Anfang deiner Abschlusskonzerts verpassen?", reisst mich meine Freundin zurück in die Realität. Stimmt. Konzert. Studium. Ich straffe die Schultern und gehe an der Cafeteria vorbei. Ich bin hier und ich werde das durchziehen. Der Gedanke an ihn bringt mich nicht weiter. Und doch denke ich immer wieder darüber nach, wie es wäre, wenn er jetzt hier sein könnte. 



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Bild: Oboe

Quelle: eigenes Foto


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