Kapitel 22 - Nicht ohne dich

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Hannah war kurz zuvor gekommen. Sie hatte geweint. Sie weinte in letzter Zeit oft. Es war eine Woche her seit Chris' Unfall. Er war noch nicht wieder aufgewacht. Es war grässlich. Ich wünschte mir, dass es endlich ein Ende nehmen würde. Ich wollte endlich Klarheit. Diese Ungewissheit trieb mich in den Wahnsinn. Ich wusste, dass Chris' Chancen auf Heilung geringer waren als die Wahrscheinlichkeit auf einen Lottosechser, die bei 0,000019 % stand. Die Ärzte sprachen schon davon, die lebenserhaltenden Maschinen abzustellen, aber Vito wollte kein Wort davon hören. Es war verständlich. Er hoffte noch immer, dass sein Vater aus dem Koma aufwachen würde. Natürlich hoffte ich das auch, aber ich hatte gelernt, meine Hoffnungen klein zu halten, weil man meist sowieso nur enttäuscht wurde. So war ich aufgewachsen. Mit Enttäuschungen. Anscheinend nahm das nie ein Ende. So war das Leben. Voller Enttäuschungen.

Ich zog mir einen Stuhl neben Chris' Bett und legte meine Hand auf Hannahs Schulter. Sie sah nicht auf. Sie umklammerte Chris' Hand und weinte leise.

„Bitte bleib bei mir", hauchte sie flehend. Sie küsste seine Hand. „Bitte, bitte, bleib bei mir!"

Ich schloss die Augen und atmete tief durch, um mich zu beruhigen. Es trieb mir jedes Mal aufs Neue wieder die Tränen in die Augen, wenn ich sah, wie sehr Hannah litt. Sie hatte ihren Mann schon einmal verloren. Er war an einem Herzinfarkt ums Leben gekommen. Danach hatte sie Chris kennengelernt und nun starb er auch. Das war nicht fair! Das war einfach nicht fair! Wirklich nicht!

Sie wischte sich übers Gesicht, liess Chris' Hand los und stand auf. „Ich muss los", murmelte sie mit bebender Stimme und wandte sich eilig ab. Ich sah ihr nach, wie sie das Zimmer stolpernd verliess und zur Lifthalle hastete. Es war zu viel für sie. Sie tat mir richtig leid. Chris war alles, was sie noch hatte. Sie hatte keine Kinder und ihre Eltern waren schon seit längerem tot.

„Sie braucht dich, Chris", sagte ich zu ihm und rutschte mit meinem Stuhl etwas näher zu seinem Bett. „Sie liebt dich und du solltest dich für sie entscheiden", fuhr ich fort. „Ich weiss, das ist schwer und der Tod scheint viel zu verlockend, aber das Leben ist schöner als der Tod. Du hast hier eine Familie und wir alle möchten, dass du hier bleibst. Zudem ist es endlich Sommer geworden. Es ist schön und warm. Es ist wahr, Chris, du musst nur die Augen aufschlagen und nach draussen sehen. Keine Wolke am Himmel. Nichts. Wir könnten in die Ferien fahren. Ich könnte mein Studium um ein Jahr nach hinten verschieben, genau wie Müri und Aiden. Ach, und dann würden wir natürlich auch einen Kochkurs besuchen, wenn wir schon mal Zeit haben, damit wir uns nicht immer was vom Chinesen kommen lassen müssen." Ich sah Chris an. Er war bleich und ganz abgemagert. Ich sprach mit einem Toten. Wieso tat ich das?

„Ich drehe hier langsam durch, Chris. Wenn du dich nicht bald für eine Seite entscheidest, werde ich wahnsinnig. Dann lande ich im Irrenhaus. Obschon, der Fichtenweg 4c ist ja eigentlich so was wie ein Irrenhaus. Oder?"

Ich schaute ihn erwartungsvoll an. Hatte ich wirklich eine Antwort erwartet?

Traurig schüttelte ich den Kopf und starrte zu Boden. Er war nicht mehr da. Er war weg.

Eine Schwester betrat das Zimmer und kontrollierte einige Dinge. Wir wechselten kein Wort. Als sie weg war, holte ich ein Buch aus meiner Tasche. Es war ein Tagebuch. Es hatte einen blauen Einband und war vollkommen leer. Keine einzige Seite davon war beschrieben. Ich legte es auf den Tisch, der am Fenster stand, und holte Schreibzeug hervor.

Hannah & Chris

Schrieb ich auf den Einband. Danach schlug ich die erste Seite auf und klebte ein Foto ein. Es zeigte die beiden an Vitos Geburtstag. Ein weiteres von Weihnachten folgte. Danach eines von Neujahr, eines vom Schneemannbauen mit Emilia, Vito und mir, eines, wo sie draussen auf der Veranda sassen und lachten, eines vom See, eines vom 20 jährigen Hochzeitstag von Michael und Bria, eines von meinem Konzert. Überall waren sie zusammen drauf. Es gab etliche Fotos. Ich klebte alle ein und schrieb zu jedem Bild das Datum und ein paar Sätze dazu.

Bis zum letzten AkkordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt