Kapitel 11 - Regen, Tinte und Blut

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Still sass ich vor meinem Abendessen. Mum und Dad stritten sich. Ich hatte den Kopf gesenkt und versuchte ihre zornigen Stimmen auszublenden. Es ging gar nicht. Mums Stimme schraubte sich in die Höhe, wurde immer hysterischer. Dad wurde lauter, wütender.

„Merkst du eigentlich, dass man dir nie etwas recht machen kann? Ich wollte dich auf ein Dinner einladen und was kriege ich zum Dank?", schrie Dad.

„Ich setzte keinen Fuss in dieses hundsmiserable Restaurant! Wenn ich dir nicht mehr wert bin, lassen wir es besser!"

„Du warst doch noch gar nie dort!"

„Man sieht es schon von aussen, dass es eine Drecksbude ist!"

„Was du da gerade als Drecksbude betitelt hast, ist das Restaurant meines besten Freundes! Weisst du, wie viel Arbeit er dort reingesteckt hat?"

„Na anscheinend zu wenig, denn es sieht grauenvoll aus", gab Mum zurück.

Ich stocherte lustlos in meinem Essen herum. Ich war es gewohnt, dass sie sich stritten, aber an diesem Abend sollte es noch sehr viel schlimmer kommen.

„Noemi! Was sagst du dazu?", richtete sich Mum plötzlich an mich.

„Ich kenne das Lokal nicht", antwortete ich wahrheitsgemäss. Mum nickte. Sie deutete auf mich und sah Dad dabei siegessicher an. „Siehst du, niemand geht dort hin. NIEMAND!"

„Dann wären wir eben die ersten. Wir würden Marc eine riesen Freude machen. Bitte, Schatz!"

Aber Mum schnaubte nur verächtlich. „Feiern wir unseren Hochzeitstag oder den von dir und diesem schmuddeligen Marc?", zeterte sie. Ich sah, wie sich in Dads Gesicht etwas veränderte. Er war ausser sich vor Zorn.

„So denkst du also über meine Freunde, ja? Vielen Dank, das war sehr aufschlussreich!"

„Ich konnte diesen Kerl nie leiden. Schön, dass dir das erst jetzt auffällt! Da sieht man mal wieder, wie grosse Beachtung du deiner Frau schenkst."

„Ich wollte verdammt nochmal mit dir essen gehen, dich ausführen, aber in deinen Augen mache ich immer alles falsch!" Dad gestikulierte aufgebracht. Ich hatte meine Gabel hingelegt. Ich hatte keinen Hunger mehr.

„So geht es dir doch auch, Noemi, oder?" Dad sah mich erwartend an. „Man macht immer alles falsch in diesem Haushalt, oder? Oder?", drängte er mich.

„Wenn du jetzt auch nur ein Wort sagst, Noemi..." Meine Mutter sah mich drohend an. Ich schaute von ihr zu Dad und wieder zurück. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich sagen sollte. Ich konnte es nicht beiden recht machen. In eines der beiden Messer würde ich sowieso laufen. Ich musste nur entscheiden, welches schlimmer war: das von Mum oder das von Dad. Beide sahen mich bedrohlich an, aber Mums Blick war noch vernichtender als Dads. Sie glich einer Furie. Irgendwann musste ich zugeben, dass ich vor meiner Mutter mehr Angst hatte als vor meinem Vater.

„Ich finde, du übertreibst, Dad", sagte ich mit möglichst fester und überzeugter Stimme. Ich hasste es, wenn sie mich in ihren Streit mit hineinzogen.

„WAS?", schrie Dad auf und knallte seine Hand so fest auf den Tisch, dass die Gläser wackelten. Ich zuckte zurück. Sein Gesicht war hochrot vor Zorn. Meine Mutter lächelte triumphierend. „Du ergreifst also für deine Mutter Partei? Ist das dein Ernst?", fuhr er mich grob an. Sein Blick war verächtlich. Er sah mich an, als wäre ich ein Stück Dreck. Ich stand heftig auf und mein Stuhl kippte nach hinten und fiel krachend zu Boden.

„Ich sollte überhaut für niemanden Partei ergreifen müssen!", schrie ich meine Eltern an. „Das ist so unfair! Ihr benutzt mich, um dem anderen wehzutun. Ich mache da nicht mehr mit!" Meine Stimme überschlug sich. Meine Hände zitterten heftig und ich versuchte, nicht in Tränen auszubrechen. Ich war wirklich kurz davor, aber ich drängte sie krampfhaft zurück. Ich wollte und durfte nicht weinen. Nicht vor meinen Eltern.

„Wie bitte? Was soll das heissen, du machst nicht mehr mit?", wollte meine Mutter von mir wissen. Ihr Blick durchbohrte mich geradezu. Sie hatte sich nun mir gegenüber vom Tisch aufgebaut, die Hände in die Seiten gestemmt.

„Ich haue ab!", schrie ich und eigentlich bereute ich die Worte im selben Moment auch schon wieder.

Mum lachte kalt auf. „Ach ja? Und wohin willst du gehen?"

Ich hielt ihrem Blick stand. „Als würde ich dir das sagen!", schrie ich sie an und mit diesen Worten rannte ich aus dem Wohnzimmer, nahm meine Schultasche, die noch immer im Flur stand und warf mir eine Jacke über. Mein Vater hatte mich erreicht, als ich gerade in meine Schuhe schlüpfte.

„Nirgends wirst du hingehen!", brüllte er und dann holte er aus und schlug mich so heftig ins Gesicht, dass ich zurück torkelte. Der Schmerz war so stechend, dass er mir wieder die Tränen in die Augen trieb. Das Bild verschwamm vor mir. Ich blinzelte heftig. Kurz bevor Dad ein weiteres Mal zuschlagen konnte, stiess ich ihn zur Seite und stolperte zur Haustür. Blind stürmte ich hinaus. Ich hatte absolut keine Ahnung, wo ich hin sollte. Ich wollte einfach weg von diesem Haus.

Es regnete in Strömen. Wasser spritze mir bei jedem meiner Schritte an die Beine. Ich schlitterte unbeholfen und taub vor Schmerz und Trauer über das nasse Pflaster. Mein Vater war mir noch einige Meter hinterher gerannt, aber dann hatte er wohl beschlossen, dass ich es nicht wert war.

Ich rannte noch immer. Mein Atem ging keuchend und meine Wange brannte heiss, wo Dad mich geschlagen hatte. Er hatte mich noch nie geschlagen. Der Schmerz in meiner Seele war fast schlimmer als der körperliche Schmerz. Ich konnte kaum sehen, wo ich hinrannte, weil in meinen Augen immer noch Tränen standen. Plötzlich rutschte mein Fuss weg. Ich begann zu fallen und knallte hart auf die Strasse. Ein stechender Schmerz, der mich alles andere vergessen liess, fuhr durch meinen Kopf. Mir wurde schlecht. Ich würgte, aber es kam nichts hoch. Blut sickerte aus einer Wunde an meinem Hinterkopf und vermischte sich mit dem Regenwasser. Ich war mit meinem Schädel auf den Rand des Gehsteigs geknallt. Ich blieb reglos liegen. Meine Schulsachen waren aus meiner Tasche gefallen und lagen um mich herum verstreut auf dem Boden. Auch die Komposition war dabei. Die Tinte meines Füllfedernhalters verschwamm durch das Regenwasser, die Schrift löste sich langsam auf. Mein Blick war starr. Ich sah dem roten Rinnsal aus Blut und Wasser zu, wie es sich seinen Weg über die Strasse und auf die Noten zu bahnte. Es hinterliess auf dem weissen Blatt Papier eine rote Spur, die nie mehr ausgehen würde.

Dann wanderte mein Blick hoch in den trüben Nachthimmel. Nach und nach rückte alles in den Hintergrund. Der Schmerz verblasste, meine Trauer wurde fortgespült. Mein Leben floss dahin. Ich versuchte nicht, es aufzuhalten, ich wollte es nicht mehr.

Ich lag alleine und verlassen auf der dunklen Strasse. Blut floss aus meiner Wunde, Regenwasser tropfte aus meinen blonden Haaren. Es war kalt, eiskalt. Mein Körper war taub und irgendwann fühlte ich einfach gar nichts mehr. Ich konnte endlich die Augen schliessen. Es war wie eine Erlösung. Die dunkle Strasse verschwand, meine Schmerzen verschwanden. Ich wurde in Watte gepackt und alles um mich herum wurde weiss. Ein gleissendes Licht und dann... nichts mehr.






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