Kapitel 4 - Der Fichtenweg 4c

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Ich muss wohl nicht erwähnen, wie meine Laune am nächsten Tag war.
Lustlos starrte ich zum Fenstern hinaus, als die Tür dieses Mal zwanzig Minuten nach Lektionsbeginn geöffnet wurde und Vito Da Costa den Musiksaal betrat. Ich schaute nicht einmal auf. Ich hatte keinen Bock mit ihm zu reden. Er anscheinend auch nicht, denn er setzte sich ohne ein Wort zu sagen neben mich. Vor mir lag noch immer das leere Blatt, auf dem bei anderen schon zeilenweise Noten standen. Mein Kopf war schlicht leergefegt. Ich hatte keine Ahnung, worüber ich ein Stück komponieren sollte.

Vito sah mich von der Seite her an und zog eine Augenbraue hoch.

„Du warst ja schon unglaublich produktiv", spottete er und zog das Blatt zu sich. Ich drehte ruckartig den Kopf und funkelte ihn an.

„Ich war ja wohl nicht die, die zu spät gekommen ist!", fuhr ich ihn heftig an. Er zuckte unbeeindruckt mit den Schultern und widmete seine Aufmerksamkeit dem leeren Blatt Papier.

„Was tust du da?", fragte ich ihn, als er zu schreiben begann. Ich sah ihn mit skeptischem Blick an. Seine Handschrift war echt grauenvoll.

„Ich tue das, was du in den letzten 20 Minuten nicht getan hast", gab er kalt zurück. Er beugte sich so über das Blatt, dass ich nicht sehen konnte, was er genau aufschrieb. Es machte mich rasend. Ich spähte über seine Schulter, aber er verdeckte mir absichtlich die Sicht. Ich stiess ihn wütend zur Seite und inspizierte das Blatt.

„C-Dur? Ist das nicht ein wenig zu einfach?", kritisierte ich ihn gleich. Er liess seinen Bleistift sinken und hob langsam und bedrohlich den Kopf.

„Wenn es dir nicht passt, mach einen besseren Vorschlag", knurrte er.

„Wenn schon, dann A-Moll."

Vitos Blick hätte mich töten können, so zornig war er. „Mach es doch selber", fauchte er. Das liess ich mir nicht zweimal sagen. Ich nahm ihm den Bleistift aus der Hand, strich D-Dur, das er oben aufs Blatt geschrieben hatte, durch und schrieb A-Moll hin.

„Bist du jetzt zufrieden?"

Ich grinste siegessicher und nickte.

„Titel?", fragte er mich dann gelangweilt. Anstatt ihm zu antworten, schrieb ich das Wort gleich oberhalb von A-Moll aufs Blatt. Ich provozierte ihn richtig. Gespannt beobachtete ich seine Reaktion.

Ich hatte Wut erwartet, weil ich einfach entschieden hatte, oder vielleicht auch Belustigung, weil der Titel viel zu simpel war, aber er zeigte nichts von beidem. Anstatt voller Wut oder Belustigung, war sein Gesicht ausdruckslos.

„Nein", erklärte er schlicht, aber dabei war seine Stimme so scharf, dass ich kurz zusammenzuckte, was ich natürlich sofort überspielte.

„Wieso nicht?", fragte ich ihn provokativ. Er riss mir das Blatt unter den Fingern hervor und zerknüllte es.

„Weil ich diese bescheuerte Komposition nicht Forever nennen werde!", schrie er mich an und warf das Papierknäuel durchs Klassenzimmer. Damit hatte ich nicht gerechnet. Diese Reaktion hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Ich wollte ihn bloss ein wenig provozieren, aber sicher nicht wollte ich, dass er dermassen ausrastete.

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, also starrte ich ihn einfach nur fassungslos an.

„Was?", blaffte er mich abweisend an.

„Du hast gerade unsere Komposition zusammengeknüllt und weggeworfen", erklärte ich ihm immer noch ungläubig.

„Deine Komposition meintest du wohl."

„Nein."

Seine Augen funkelten bedrohlich, während er mich ansah. „Du lässt mich überhaupt nicht daran teilhaben. Du schliesst mich aus."

Bis zum letzten AkkordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt