Ich hatte mehr Glück als Verstand. Als ich am Montag zur Schule ging, benahm sich Vito genau wie vorher. Nichts deutete darauf hin, dass wir im Catarata zusammen getanzt und uns amüsiert hatten. Ich war erleichtert. Ohne gross etwas zu sagen, gab er mir die Komposition. Wir wechselten die ganze Woche lang kaum ein Wort miteinander. Auch im folgenden Monat gingen wir einander grösstenteils einfach aus dem Weg. Müri verstand es nicht, aber sie musste es ja auch nicht verstehen. Ich hatte genug Probleme mit mir selber. Ich wollte Vito nicht Teil meines Lebens werden lassen, weil ich wusste, das würde mir nur noch mehr Probleme bereiten. Also machte ich einen weiten Bogen um ihn. Es reichte schon, dass wir uns jeden Montag im Kompositionsunterricht und zweimal die Woche im Sport sahen. Die Komposition ging von ihm zu mir und wieder zu ihm und immer so weiter. Es funktionierte nicht so gut, wie wir gedacht hatten. Es ging harzig voran, aber es ging und das war die Hauptsache.
Wir hatten unsere Attacken gegeneinander zwar nicht eingestellt, aber wir trugen unsere Meinungsverschiedenheiten nicht mehr so öffentlich aus. Das meiste ging nun über böse, herablassende oder vernichtende Blicke, die wir einander zuwarfen. Worte brauchten wir nur noch selten, weil das ja vorausgesetzt hätte, dass wir miteinander gesprochen hätten, worauf wir beide nicht allzu grosse Lust hatten. Das Kompositionsprojekt war das einzige, was uns noch zusammenhielt.
Auch bei Chris war ich nicht mehr gewesen seit dem Vorfall im Catarata. Auch wenn ich ihn und die Primes echt gerne mochte, es war zu kompliziert. Ich hätte es niemals vor Vito geheim halten können und die Gefahr ihm über den Weg zu laufen, wenn ich in seinem Haus war, war astronomisch gross, logischerweise. Ich stellte mich also doch gegen das, was das Schicksal wollte, aber es war mir egal.
Ich musste mit meinen Problemen alleine klarkommen. Und die Probleme bestanden weiter, denn zuhause hatte sich die Situation nicht im Geringsten verändert. Es herrschte noch immer dauernder Streit. Man hatte keine ruhige Minuten in diesem Haus. Es war eine Katastrophe. Ich versuchte, möglichst viel Zeit bei Müri und Aiden zu verbringen, um nicht in Münsingen sein zu müssen. Aber auch das wurde zunehmend schwierig, weil ich mich mit Dalia zerstritten hatte und wir kein Wort mehr miteinander wechselten. Wir ignorierten uns. Dazu war es gekommen, weil sie und Vince sich wieder einmal getrennt hatten und sie sich daraufhin bei mir ausgeheult hatte. Sie hatte nur noch geflennt und sich beklagt. Eine Zeitlang hatte ich mir das angehört, aber irgendwann hatte es mir gereicht. Ich war einfach ausgerastet, weil ich von meinen eigenen Problemen erdrückt wurde und mir ihre im Vergleich zu meinen so mickrig vorkamen, und es trotzdem sie war, die sich dauernd bemitleidet hatte. Ich hatte sie angeschrien. Es war nicht einmal wirklich aus Absicht passiert. Ich war an diesem Tag richtig fertig gewesen und mit den Nerven am Ende. Aber sie hatte das natürlich nicht verstanden und so war es gekommen, dass wir uns nun auch aus dem Weg gingen.
Es wurde je länger je schwerer, meine familiären Probleme vom Rest meines Lebens zu trennen. Ich hatte das Gefühl, mein ganzes Leben brach nach und nach auseinander. Manchmal war ich wirklich kurz davor, in Tränen auszubrechen. Ich wusste einfach nicht mehr wie weiter.
Und dann kamen die Herbstferien. Müri war bei einer Tante in Chur, Aiden war in Portugal und ich war alleine mit meinen Eltern zu Hause. Es war grauenhaft. Oft flüchtete ich irgendwo in den Wald oder nach Thun an den See, um Oboe zu spielen. Das war der einzige Weg, um mich ein wenig abzulenken.
Es war wieder einmal ein solcher Tag, wo zuhause einfach alles aus den Fugen gelaufen war und ich nun im Schneidersitzt am See sass und versuchte, in meine Musikwelt einzutauchen. Ausser mir waren noch ein altes Ehepaar und eine Mutter mit ihren zwei Kindern da, aber sonst war ich alleine. Ich hatte die Augen geschlossen und konzentrierte mich völlig auf die Melodie, die mir durch den Kopf ging. Ich improvisierte, wie ich es so oft tat. Es fiel mir an diesem Tag leicht. Meine Gefühle waren so heftig, dass ich ihnen einfach irgendwie Luft verschaffen musste und das tat ich in Form von Musik. Ich war so in die Melodie versunken, dass ich gar nicht bemerkte, wie noch jemand an den See kam und sich etwas abseits von mir ans Ufer setzte. Kurz drohten mich meine Gefühle trotz allem zu überwältigen. Ich schraubte die Melodie in die Höhe. Sie wurde heftiger. Aus Trauer wurde Wut. Ich hatte den höchsten Ton erreicht und als ich kurz zögerte, weil ich nicht genau wusste, wie ich die Melodie auflösen sollte, führte plötzlich jemand anderes mit einer Gitarre mein Stück weiter. Ich horchte verblüfft auf und öffnete die Augen, konnte aber niemanden erkennen. Die andere Person besänftigte meine Melodie wieder und brachte eine tröstende Ruhe in das Stück. Ich konnte es nicht glauben. Es hörte sich an, als würde mich die Person zu beruhigen versuchen. Aber das konnte nicht sein. Oder?
DU LIEST GERADE
Bis zum letzten Akkord
Teen FictionFortsetzung zu "Mein Lied für dich". Wenn Welten zerbrechen. Wenn man sich selbst zerstört. Wenn man alleine nicht mehr kann. Wenn man nicht mehr weiter weiss... Dann gibt es nur eins: sich zusammentun. Aber was, wenn die Person, die dir das Schicks...