1. Kapitel

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»Und, irgendetwas Interessantes herausgefunden?«, fragt Rae und hebt den Kopf. Ich starre ihn mit meinen schokoladenbraunen, großen Rehaugen an und beiße mir auf die Lippe, bevor ich betreten nicke.

»Ja, eine Nachricht von Silvy«, antworte ich mit belegter Stimme und lehne mich an die Mauer, von der schon seit einiger Zeit immer mehr Farbe abbröckelt. Die Menschen hier haben schlichtweg kein Geld, um ihre Besitztümer instand zu halten, nur für das Nötigste können sie noch aufkommen.

»Und?« Rae streicht durch sein zerzaustes, blondes Haar. In einem halben Jahr würde er achtzehn und damit volljährig werden, worum ich ihn echt beneidete.

Ich blinzle meinen besten Freund an und zucke die Schultern, als wäre es nichts wichtiges, obwohl er bald sowieso wissen wird, wie schlimm die Situation ist. »Sie haben eine gefunden. Eine Beschenkte.«

Er schnappt erschrocken nach Luft und sieht mich an, als befürchte er, ich würde jeden Moment austicken. Neben mir und meiner Mutter ist er der Einzige, der von meinem Geheimnis weiß. Ich kenne ihn, seit ich denken kann, und in nicht allzu ferner Zukunft werde ich ihn wahrscheinlich sogar heiraten, daher lag diese Entscheidung nahe.

Mit meinen siebzehn Jahren bin ich sowieso schon spät dran, die meisten Mädchen werden im Alter von fünfzehn verheiratet. Heutzutage kommt es nicht mehr auf Liebe in einer Ehe an, sondern nur noch auf das Überleben. Zwar ist Rae gesellschaftlich auch nicht allzu hoch angesehen, aber es ist immer noch besser als einen Wildfremden zu heiraten oder gar keinen Mann zu haben und sich allein durchkämpfen zu müssen.

»Sie werden genauer«, stellt Rae voller Sorge fest und schüttelt den Kopf. »Wenn sie so weitermachen, dann ...« Er kann es nicht aussprechen, der Gedanke daran, dass sie mich verschleppen und umbringen könnten, erschüttert ihn genauso wie mich.

»Dann werden sie mich töten«, beende ich dennoch den Satz und lasse mir meine aufsteigende Panik nicht anmerken. »Aber dazu wird es nicht kommen. Bei meiner Mutter und davor bei deren Mutter war die Gabe nicht stark ausgeprägt, durch sie wird nichts auf mich zurückzuführen sein. Mittlerweile ist meine Mutter genauso normal wie 99,9 Prozent vom Rest der Bevölkerung. Und ich bin zu vorsichtig, um mich erwischen zu lassen.«

Nach einer Weile nickt mein Freund zögerlich. »Also gut. Aber ab sofort musst du dich noch mehr im Hintergrund halten.«

»Ich weiß«, flüstere ich an seiner Schulter, als er mich in eine tröstende Umarmung zieht. »Ich weiß.« Schnell blinzle ich die Tränen weg, bevor er sie bemerkt.

Eine Weile sitzen wir so da und genießen die Anwesenheit des anderen, dann lässt mich Rae los. »Ich muss los«, erklärt er und ich nicke.

»Okay«, meine ich, »wir sehen uns dann morgen wieder hier?«

Er lächelt. »Ja. Morgen.« Dann ist er verschwunden.

Ich drehe an dem Ring, den ich von meiner Mutter habe und der mich daran erinnert, dass sie mich auch einmal gern hatte, vor all dem Chaos, das unsere Familie zerstört hat. Wie gerne würde ich alles wieder rückgängig machen und das Leben leben, wie es für mich eigentlich bestimmt war.

Mit einem Seufzer schließe ich die Holztür auf, die im Grunde nutzlos ist, weil selbst ein Kind sie eintreten könnte, wenn dieses es darauf anlegen würde.

Nach einem kurzen Zögern trete ich über die Schwelle und schließe dieTür hinter mir ab. Mir widerstrebt es selbst nach einem Jahr noch, dieses Haus zu betreten mit seinen fremden Gerüchen und Bewohnern, die ich nicht mehr kenne oder bis vor einem Jahr nie wirklich kannte.

Während ich mir die Weste abstreife, entdecke ich James, meinen kleinen fünfjährigen Halbbruder, der unter dem Küchentisch mit seinen Bauklötzen spielt und aufblickt, als er mich sieht. Ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus und er winkt mir zu, aber ich erwidere dies nur mit einem müden Lächeln, da mir zu mehr die Kraft fehlt.

✔A Servile CrownWo Geschichten leben. Entdecke jetzt