4. Kapitel - Beweise

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Als ich an diesem Abend in meinem Zimmer saß und Becks über die Folgen unseres Kusses durch das Telefon berichtete, wurde ich mal wieder von meinem Zwillingsbruder gestört. Ich hatte ihn nicht herein gebeten, doch das schien ihn nicht davon ab zu halten, sich neben mich aufs Bett zu setzen.

„Was wird das?", fragte ich gereizt und beendete das Gespräch zu Becks. Ich würde sie einfach nachher wieder anrufen und ihr die Situation erklären.

„Wir müssen reden.", kommandierte mein Bruder und sah mich durchdringend an. Worüber konnte er mit mir reden wollen? Hatte er jetzt endlich gemerkt, was für eine hinterhältige Schlampe seine Freundin war? Oder was für ein ekelhafter Idiot aus seinem ehemaligen besten Freund geworden ist?

„Es geht um den Kuss zwischen dir und deiner Freundin. Ich wollte dir nur sagen, dass du mit mir reden kannst, wenn du wegen irgendetwas fragen hast." Nun konnte ich nicht mehr – was redete er da nur für einen Schwachsinn? Ich fing lauthals an zu lachen und drehte mich zu ihm um.

„Denkst du ernsthaft, dass ich wegen eines lächerlichen Kusses komplett verwirrt sein würde? Und mal abgesehen davon – selbst wenn ich irgendwelche Fragen über dieses Thema hätte, würde ich definitiv nicht zu dir kommen." Mein Bruder schien nicht mit solch klaren Worten gerechnet zu haben und zuckte daher ein wenig zusammen.

„Ich dachte ja nur... Du wirktest an Silvester ziemlich überrumpelt und dann habe ich heute in der Schule gehört, wie sich ein paar Idioten über deinen Kuss lustig gemacht haben.", stammelte er unsicher, doch seine Worte brachten mich nur noch mehr zum Lachen. Vermutlich hatte er bei all den dummen Sprüchen übersehen, wem ich den neuen Spitznamen zu verdanken hatte. Es war wirklich erstaunlich, wie blind ein Mensch durchs Leben laufen konnte – vor allem, wenn er sonst so schlau wirkte.

„Lass es einfach, Lucas. Ich komme schon ohne dich klar, das habe ich schon immer." Ich sah, dass er sich in letzter Zeit wirklich Mühe gab, sich wieder mit mir zu versöhnen und ich rechnete ihm das wirklich hoch an, doch selbst wenn ich ihm verzeihen wollen würde, könnte ich es nicht. Ich musste so viele Hänseleien über mich ergehen lassen, gegen die ich ohne ihn einfach nicht ankam. Ich hatte so viele schlechte Erlebnisse gehabt, die mich bis heute noch prägten und verfolgen. Ich hätte ihn so oft gebrauchen können, schließlich war er meine zweite Hälfte und sollte an meiner Seite mit mir kämpfen, doch all diese Erlebnisse hatte Lucas verpasst. Ich wollte ihn nicht mehr an meiner Seite sehen.

„Aber dann rede wenigstens mit Paps und Papa über die Sache, falls dich deine... Neigungen verwirren. Ich mache mir nur sorgen um dich.", versuchte es mein Zwillingsbruder erneut und tätschelte dabei tatsächlich meinen Arm. Mit einem Mal verstand ich jedoch, was genau er von mir wollte.

„Ich bin nicht Lesbisch.", antwortete ich sofort. „Aber selbst wenn es so wäre, wäre es mir ziemlich egal. Es ist heutzutage nicht mehr schlimm oder verboten homosexuell zu sein – falls du dir mal unsere Familie genauer angeschaut hast, solltest du das eigentlich gemerkt haben – und da ist mir die Meinung der anderen auch ziemlich egal.", redete ich mich in Rage. Wie konnte Lucas dieses Thema immer noch so schlimm finden? Wir waren mit zwei Vätern aufgewachsen und hatten von klein auf gelernt, dass es völlig normal war. Wie hatte er nur all die Erziehung vergessen können? Vermutlich war das auch eine seiner Ansichten, die sich durch das Internat geändert hatten.

Lucas sah mich durch seine grünen Augen erschrocken an, antwortete jedoch nicht. Offenbar hatte er nicht mit so einer Antwort von mir gerechnet. Wieder einmal lachte ich, um meine Unsicherheit zu überspielen.

„Glaub mir, ich hatte schon schlimmere Spitznamen. Damit komme ich klar." Lucas wollte etwas antworten, jedoch verzog sich sein Mund zu einer Grimasse, als wir durch ein Klopfen gestört wurden.

Wer nicht kämpft, kann nicht gewinnenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt