21. Kapitel - Empathie

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Doch leider hatte jeder schöne Moment im Leben irgendwann sein Ende und so boten Alec und ich keine Ausnahme des Universums. Wir trennten uns wieder voneinander, doch Alec ließ noch eine Weile seine Hand an meiner Wange uns sah mich einfach nur durchdringend an.

Als er dann Kopfschüttelnd lachte, machten sich in mir wieder einmal Selbstzweifel breit, die ich nicht abstellen konnte. Küsste ich so schlecht, dass ihm zum Lachen zumute war? Oder war es nur die absurde Situation zwischen uns beiden, die ihn zum Lachen brachte?

„Was ist?", fragte ich und der Junge mit den eisblauen Augen ließ langsam seine Hand von meiner Wange streichen.

„Nichts", meinte er aus Reflex, doch dann seufzte er leise und setzte zu einer Antwort an, die mehr der Wahrheit entsprach. „Das ist einfach nur etwas, das ich niemals erwartet hatte."

Ich schenkte ihm ein kleines unsicheres Lächeln und wandte meinen Blick kurz darauf auf etwas anderes, das meine Aufmerksamkeit erregte.

„Was ist...", fing ich an zu fragen, doch meine Finger streckten sich in die Richtung seines Halses, noch bevor ich sie zu Ende ausstrecken konnte. Seine eisblauen Augen hatten mich die ganze Ziet so abgelenkt, dass mir die gerötete Stelle an seinem Hals gar nicht aufgefallen war. Zuerst dachte ich, es wäre ein Knutschfleck – mein Herz setzte einen Moment aus, als ich daran dachte, dass Alec womöglich mit anderen Mädchen rummachen könnte – doch als ich meinen Finger auf die Wunde legte, zuckte Alec auf eine Weise zusammen, die ich nur als Schmerzen deuten konnte. Das war kein Knutschfleck.

Trotz des kurzen Zuckens machte Alec keine Anstalten sich von meiner Berührung zu entfernen und hielt mich auch nicht auf, als ich den Ausschnitt seines Shirts ein bisschen weiter nach Unten zog. Was sich mir kurz darauf auf seiner Haut offenbarte ließ mich den Atem anhalten – ich hatte genug Zeit meines Lebens im Krankenhaus verbracht, um zu wissen, wie eine Verbrennung aussah und das hier erinnerte mich ziemlich stark an den Fall, der mich vor Jahren für immer geprägt hatte: Damals war eine Frau eingeliefert worden, die unglücklich auf ihre glühende Zigarette gefallen war und eine kleine Brandwunde an ihrem Arm gehabt hatte. Eigentlich hätte ich sie gar nicht sehen dürfen, doch Lucas und ich waren mal wieder auf unseren Erkundungstouren und hatten es deshalb geschafft uns in ein Behandlungszimmer zu schleichen. Während Lucas der Frau weiß machen wollte, dass er der zuständige Arzt wäre und sich deshalb unbedingt ihren Arm genauer ansehen müsste, hatte ich an der Tür wache gestanden und versucht nicht allzu oft auf die Brandverletzung zu sehen.

Das was ich nun an Alecs Schlüsselbein zu sehen bekam, erinnerte mich verdächtig an den damaligen Fall. „Wie ist das passiert?", fragte ich flüsternd. Ich hatte schon damals bezweifelt, dass die frau tatsächlich nur unglücklich gefallen war, doch heute war ich mir sicher, dass Alec sich diese Wunde nicht selber zugefügt hatte. Dafür war die Stelle einfach zu ungewöhnlich – normalerweise hätte ich sie niemals entdeckt, doch dank unseres kurzen Moments war sein Shirt ein bisschen zur Seite und somit der Ausschnitt nach unten verrutscht. Das war niemals ein Unfall gewesen – dafür hätte ich wortwörtlich meine Hand ins Feuer gelegt.

Alec antwortete nicht, er sah einfach nur durch den kleinen Spalt, der dank meiner Entdeckung zwischen uns beiden entstanden war, auf den Boden und ignorierte seine Worte. Und in diesem Augenblick wusste ich ganz genau, dass ich die gesamte Zeit mit meiner Vermutung richtig gelegen hatte, wusste ganz genau, dass keine seiner vielen Verletzungen von ihm selber verantwortet waren. Er brauchte keine Worte benutzen, um mir zuzustimmen – das hier war ein Moment, in dem ich seine Gedanken auch ohne einen einzigen Ton erraten konnte.

Ich hatte Alec noch nie so hilflos wie in diesem Augenblick gesehen, nicht einmal während seiner Panikattacke war er mir so zerbrechlich vorgekommen, wie in diesem Augenblick. Zwar zeigte sich keine Regung in seinem Gesicht, aber seine Muskeln waren angespannt und der Blick zum Boden sprach Bände.

Wer nicht kämpft, kann nicht gewinnenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt