6. Kapitel - Wut

172 13 6
                                    

„Was ist das hier?", fragte ich vorsichtig, während ich Alec folgte. Wie erwartet, hatte er schon auf dem Spielplatz vor seinem Haus auf mich gewartet, sodass ich nicht einmal die Chance hatte, in die Nähe seiner Wohnung zu gehen.

„Wonach sieht's denn aus?", stellte der Junge mit den eisblauen Augen die Gegenfrage, während wir auf das graue Gebäude zugingen. Es war – genau wie alles andere im näheren Umkreis – mit Graffiti verschönert worden, doch noch immer schienen die Bauten trostlos und leblos. Wieder einmal musste ich feststellen unter welchen unterschiedlichen Bedingungen Alec und ich lebten– meine Väter würden sich pausenlos um mich sorgen, wenn sie wüssten, dass ich mich in dieser Gegend befand und Alec musste dagegen sogar hier leben. Es war ein merkwürdiges Gefühl.

„Jetzt schau nicht so, als würden wir jeden Augenblick ausgeraubt werden.", bemerkte Alec, doch ich konnte nicht deuten, ob er von meinem Blick amüsiert war oder sich angegriffen fühlte.

„Mach ich doch gar nicht.", gab ich wenig originell zurück und stellte erleichtert fest, dass sich ein kleines Lächeln, um seine Mundwinkel bildete.

Inzwischen standen wir vor dem Eingang des grauen Gebäudes und ich stellte fest, dass es sich um eine Turnhalle handeln musste. Was machten wir hier? Ich hatte irgendwie gedacht, dass Alec und ich alleine sein würden, doch wenn die Turnhalle geöffnet war, dass befanden sich sicherlich noch andere Leute in ihr.

Ich folgte meinem selbsterkorenen Nachhilfelehrer in Sachen Selbstverteidigung in die große Halle und sah mich neugierig um. Es handelte sich eindeutig um eine Boxhalle – ob Alec hier regelmäßig trainierte? Er sah zwar nicht übermäßig trainiert aus, doch er konnte nicht grundlos jeden seiner Prügeleien gewinnen, irgendwo musste er seine Schläge gelernt haben.

Wieder einmal war es komisch zu erkennen, dass Alec ein Leben außerhalb der Schule und ohne seine kleine Schwester besaß. Das gleiche Gefühl hatte mich überfallen, als ich ihn mit ein paar Leuten auf dem Spielplatz gesehen hatte – daran musste ich mich erst einmal gewöhnen. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf gehen, dass der verschlossene Einzelgänger tatsächlich Kontakt zu Leuten hatte.

„Und was machen wir jetzt?", fragte ich nervös, als wird durch die Halle gingen. Es schienen uns die meisten Auenpaare zu verfolgen. In einem der Boxringe am Ende der Halle hörten zwei Jungen sogar auf zu kämpfen, um Alec und mich zu beobachten. Hatte ich irgendwas im Gesicht, oder warum sahen sie mich so verdutzt an?

„Jetzt wirst du lernen für dich selbst zu sorgen, damit ich dich nicht wieder retten muss." Da war er wieder. Der unfreundliche Mensch in Alec hatte sich wieder an die Oberfläche gekämpft und dominierte nun seine Person. Am liebsten hätte ich einen Witz gemacht, um das bezaubernde Lächeln wieder geschenkt zu bekommen, doch da immer noch viele Blicke auf uns ruhten, blieb mein Mund geschlossen. Mir wäre sowieso nichts Lustiges eingefallen, er hatte schließlich recht. Ich machte das Ganze nur, damit ich keinen Retter mehr brauchte, damit ich mir selbst helfen konnte.

„Hey Alec, wer ist das?", fragte ein großgewachsener Mann, mit Glatze. Er war lange nicht so breit wie der Junge neben mir, doch auch ihm sah man an, dass er viele Stunden in dieser Halle verbracht haben musste.

„Das ist Samantha, ich zeige ihr ein bisschen. Okay?" Mir blieb nicht verborgen, dass Alec meinen vollen Namen benutzte. Entweder er hatte sich komplett von meinem Spitznamen verabschiedet, oder – und die Variante gefiel mir deutlich besser – er wollte ihn nur für sich haben.

„Klar, in der kleinen Halle trainiert gerade keiner, da könnt ihr hingehen." Der Mann schien hier das Sagen zu haben. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass auch die beiden Jungen im Boxring sich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zuwandten.

Wer nicht kämpft, kann nicht gewinnenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt