19. Kapitel - Sehnsucht

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Es vergingen ein paar Tage, ehe ich mich erneut traute, mich Alec zu Nähern. Ich hatte ihn nach seinem Ausbruch zu Recht alleine gelassen und mich erst einmal auf mich selbst konzentriert, sodass ich ihm sogar in der Schule aus dem Weg gegangen und jeden Kurs geschwänzt hatte, in dem wir gemeinsam saßen. Es war vielleicht kindisch ihn so drastisch zu meiden, doch Alec hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass es genau das war, was er wollte.

Ich glaubte einmal sogar zu bemerken, wie er mich auf dem Schulhof anstarrte, doch als ich mich erneut umdrehte, um einen genaueren Blick auf den Jungen mit den eisblauen Augen zu erlangen, hatte sein Blick nicht mehr auf mir geruht und mir somit keinen weiteren Hinweis auf sein Interesse gegeben.

Doch heute Nachmittag würde ich wieder zu meinem unnötigen Praktikum gehen müssen, welches ausgerechnet bei seiner Mutter stattfinden würde und ich wollte sicher gehen, dass er nicht wieder eine Panikattacke erlangen würde, wenn ich ihm später davon erzählte. Also biss ich in den sauren Apfel und hielt ihn auf, ehe er sich auf den Weg in die Klasse machen konnte, es würde ihn sicher nicht stören ein paar Minuten zum Unterricht beim Affen auf Drogen zu kommen.

„Alec", rief ich seinen Namen und erlangte damit tatsächlich seine volle Aufmerksamkeit. Er schaffte es zwar nicht, mir direkt in die Augen zu sehen – vermutlich ging ihm unser letztes Gespräch genauso nahe wie mir – aber immerhin hörte er mir nun zu. „Kann ich dich kurz etwas fragen?" Eigentlich war allein diese Frage so unnötig, dass mein Gegenüber jegliches Recht gehabt hätte, das einseitige Gespräch zu beenden, doch das tat er Glücklicherweise nicht.

„Was gibt's denn?" Seine Hände verschwanden unsicher in seinen Hosentaschen – ich hätte sie so gerne mit meinen verschlungen, doch vermutlich wäre das in unserer jetzigen Situation nicht sonderlich schlau gewesen.

„Ich muss heute wieder zu meinem Praktikum im Kinderschutzzentrum", erklärte ich kurz und merkte leider erst jetzt, wie bescheuert diese Worte klangen, wenn man sie laut aussprach. „Naja, auf jeden Fall wollte ich nur fragen, ob es irgendwas gibt, was ich lieber nicht vor deiner Mutter sagen sollte." Vermutlich übertrieb ich einfach maßlos, doch das letzte Mal, dass ich mit seiner Mutter über Alec gesprochen hatte, hatte es in einer Panikattacke geendet. Zwar galt diese Panikattacke als Grundlage für unseren ersten –zumindest halben – Kuss, der mir definitiv nicht ungelegen gekommen war, doch trotzdem kannte ich die Gefühle während einer Panikattacke ganz genau und wollte so etwas für Alec verhindern.

„Wie kommst du darauf, dass es Themen gibt, die du nicht vor meiner Mutter ansprechen darfst?" Dieses Mal klang er ehrlich interessiert, auch wenn ich ganz genau wusste, wie schwer es ihm in diesem Augenblick fiel ruhig zu bleiben.

„Das weißt du ganz genau." Ich hob meinen Blick, um ihm direkt anzusehen. Als seine eisblauen Augen meinem Blick direkt begegneten, entstand automatisch eine Gänsehaut auf meinen Armen, die seine Intensität perfekt wiederspiegelten.

Wir sahen uns eine gefühlte Ewigkeit, in der die Zeit scheinbar stehen blieb, einfach nur an. Ich studierte seine Sorgenfalte auf der Stirn, die er sonst immer zu verbergen versuchte, ganz genau und erkannte die Verletzlichkeit in seinem markanten Gesicht.

Irgendwann durchbrach Alec die Stille und erinnerte mich wieder an die eigentliche Situation, die uns beide in diesem Moment zusammen gebracht hatte. „Sag ihr einfach nichts von den Küssen, okay?" Bei der Erwähnung unserer intimsten Momente musste ich mir auf die Lippe beißen, um nicht wie ein Honigkuchenpferd zu Grinsen. Glücklicherweise konnte ich auch bei Alec leichte Grübchen erkennen, die mir zeigten, dass ihn das Thema selbst nicht kalt ließ.

Als ich an diesem Nachmittag im Büro von Lisa saß, musste ich noch immer an das Gespräch zwischen Alec und mir denken. Es stand außer Frage, dass wir beide die Nähe des anderen genossen, sie uns sogar nach ihr sehnten, doch warum konnte es trotzdem nicht einfach sein? Alec und ich hatten beide viele Lasten zu tragen, die uns immer wieder voneinander entfernten, obwohl wir uns im Stillen einig darüber waren, dass wir nicht ohne einander sein wollten.

Wer nicht kämpft, kann nicht gewinnenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt