16. Kapitel - Kreidepause

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„Hier", sagte ich zu Alec, als ich ihn auf dem Schulhof stehen sah und reichte ihm den zweiten Becher in meiner Hand. Er sah mich verwundert an. „Ich hatte mir sowieso einen geholt und da dachte ich, dass du mindestens genauso müde sein musst, wie ich.", erklärte ich kurz und erst dann nahm Alec den Becher an. Seine eisblauen Augen trafen meinen Blick und bedankten sich still.

„Danke.", entgegnete er überrascht und schenkte mir sogar ein kleines, zaghaftes Lächeln, das ich als Gewinn des heutigen Tages ansah. Der Junge vor mir wirkte heute sogar noch ramponierter, als am gestrigen Tag, doch das kurze Lächeln schien selbst die abweisenden Augenringe und die zerstreuten Haare zu vertreiben. Es bot mir so viel Wärme in einem unheimlich kurzen Moment, dass ich gar nicht anders konnte, als in mich hinein zu grinsen. Alec mochte war äußerlich stark und unnahbar aussehen, doch inzwischen wusste ich ganz genau, dass er mir langsam aber sicher seinen lieben Kern offenbarte.

Wir gingen zusammen zum Unterricht, da wir an diesem Morgen den gleichen Kurs hatten und setzten uns dezent in die letzte Reihe. Ich erkannte Marie vor mir, die glücklicherweise so sehr von meinem Bruder in Beschlag genommen wurde, dass ich in diesem Augenblick nicht einmal einen komischen Blick einstecken musste. Es hatte also doch noch Vorteile, dass Lucas an Geschmacksverirrung litt.

„Vielleicht hätten wir heute Nacht beide lieber mal was für die Schule machen sollen.", flüsterte ich meinem Sitznachbarn zu, als alle um uns herum ihre Hausaufgaben hervor holten. Weder Alec noch ich hatten auch nur eine Minute unserer Zeit mit Gedanken an sie verschwendet, doch nun saßen wir nebeneinander an unserem Tisch und hofften, dass der Affe auf Drogen unsere fehlenden Notizen nicht bemerken würde.

„Vermutlich hast du recht, doch ich habe unser Gespräch wirklich genossen. Nichts auf der Welt hätte mich dazu gebracht, ausgerechnet für Hausaufgaben aufzulegen.", antwortete Alec indem er meinen Blick vermied und brachte mich dazu, ihn mit offenem Mund anzustarren. Was hatte er da gerade gesagt? Ich konnte nicht verhindern, dass mein Herz einen Schlag vor Schock aussetzte, nur um seinen Takt kurz darauf beinahe zu verdoppeln. Verdammt, Alecs Worte lösten in mir so viel mehr aus, als ich es für möglich gehalten hätte.

„Ging mir auch so, das war schön.", antwortete ich ehrlich und musste so viel Mut aufbringen, diese Worte auszusprechen, dass ich alles andere um mich herum vergaß. In diesem Augenblick gab es nur Alec für mich, der mir endlich seine eisblauen Augen zuwandte und mich zaghaft anlächelte. Ich biss mir grinsend auf die Unterlippe. Es brachte nichts mehr, die Tatsachen zu leugnen, ich wollte immer mehr Zeit mit dem Jungen verbringen, wollte seine Stimme hören, wollte ihm nah sein – es hatte mich vollkommen erwischt.

„Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn Sie beide ihre Gespräche einstellen würden!", rief eine dunkle Stimme laut genug, um uns aus unserer Trance zu entführen. Herr Riese hatte sich vor unserem Tisch aufgestellt und sah missbilligend auf uns herab – ich hasste diesen Typen.

„Entschuldigung", murmelte ich trotzdem leise und wich seinem, sowie den zwanzig anderen Augenpaaren, aus.

„Am besten sie organisieren mir ein bisschen mehr Kreide, damit wenigstens die anderen etwas lernen können." Er war ein Arsch, der es liebte mich Botengänge für ihn erledigen zu lassen. Es war, als wüsste er ganz genau, wie sehr ich es hasste durch die Klassen zu gehen und nach so etwas banalem wie Kreide fragen zu müssen. Jedes Mal würden mich dutzende Schüler anstarren.

Doch als ich aufstand, um mich meinem Schicksal zu beugen, setzte der Affe auf Drogen erneut an und musterte Alec mit wütendem Blick. „Am besten du begleitest sie, ich denke mein Unterricht würde dich auch überfordern, also mach lieber etwas was du kannst." Es war ein Fluch und Segen gleichzeitig, schließlich herrschten in meinem Körper noch immer die gespaltenen Gefühle für Alec, doch wenigstens musste ich jetzt nicht mehr alleine durch die Tortur.

Wer nicht kämpft, kann nicht gewinnenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt