Kapitel 14

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14

Es war ein ereignisreicher Tag für Narie, aber auch für Marvel. Für sie war es ein komischer Gedanke zu wissen, dass er ihr wieder einmal geholfen hatte. Sie fragt sich, ob er auch ihre Wunden verbunden hatte, als sie nach Jades Tod zusammen gebrochen war. Marvel dagegen ist bewusst, was ganz Panem von ihm denken muss. Es kommt nicht oft vor, dass ein Karriero-Tribut jemandem hilft, und schon gar nicht jemandem aus einem der äußeren Distrikte. Aber es ist ihm egal. Er bereut nicht was er getan hat. Das Einzige was er bereut ist, dass er nicht mit ihr zusammen abgehauen ist und sich mit ihr verbündet hat. So hat er gar keine Chance sie wieder zu finden und alleine ist er ein weitaus leichteres Ziel. Aber will sie überhaupt ein Bündnis mit ihm? Schließlich war sie diejenige der man ihren Hass auf die Karrieros schon von weitem ansehen kann. Aber besteht nicht auch die Chance, dass sie ihre Meinung geändert hat? Es mag sicher nicht einfach sein seine Meinung zu ändern, denn er war, auch wenn er es nicht gerne zugibt, ein Mörder. Er hatte unschuldigen Kindern das Leben genommen, die meisten dieser Kinder waren jünger als er. Er hatte Familien das genommen was ihnen am wichtigsten ist. Und wozu? Weil er sich eingebildet hatte, dass es seine Bestimmung ist. Seit er klein war wurde er auf die Spiele vorbereitet, es wurde alles dafür getan, dass er lebend aus dieser Arena raus kommt. Aber eine wichtige Sache hatten die Trainer in Distrikt 1 nicht bedacht. Nämlich, dass Menschen fühlen. Dass sie ein Gewissen haben. Und, dass das Töten das Einzige ist was einem im Leben bleibt. Marvel hatte nun genau dieses Problem. Zwischen seinem Ausweg aus dieser Arena und seinem Tod standen seine Gefühle. Gefühle für ein Mädchen, dass er kaum kannte. Aber seit dem Moment ihrer Ernte, wo sie so stark und selbstsicher gewirkt hatte, bewundert er sie. Und als er sich mit ihr im Aufzug unterhalten hatte, da wusste er, dass ihm dieses Mädchen sympathisch war. Sie erinnerte ihn an seine Schwester, die vor einigen Jahren verstorben war. Er weiß noch genau, wie wütend er damals auf den Tribut aus Distrikt 2 war, dass er sie mit seiner Axt durchbohrt hatte, aber nun hatte er dasselbe gemacht. Er hatte viele Familien mit denselben Gefühlen zurück gelassen, die er vor einigen Jahren verspürt hatte - Schmerz und Trauer. Er konnte es nicht abstreiten, er war ein Mörder und das würde ihn für immer verfolgen...

Im selben Moment läuft Narie durch die Arena. Sie will in Richtung See gehen um ihre Wasserflasche zu füllen, denn seit sie in der Arena ist verspürt sie einen stärkeren Durst als sonst. Sie ist sich bewusst, dass es riskant ist zum See zu gehen, sie könnte auch einfach zum Fluss gehen und dort ihre Flasche unbemerkt füllen. Trotzdem entscheidet Narie sich jedes Mal für den See. Dieser mag zwar näher an den Karrieros liegen, befindet sich aber auch näher am Wald. Im Notfall könnte sie viel schneller wieder Gebiet erreichen auf dem sie sicher ist, auf dem sie weiß, wie sie sich am besten aus der Situation retten kann. Um den Fluss zu erreichen muss man zunächst über eine relativ große Fläche ohne Bäume, nur mit kaltem, nacktem Stein. Dort wäre sie vor einem Angriff gänzlich ungeschützt, ihre Chancen lebend aus der Situation heraus zu kommen wären also nicht sehr hoch. Eines von Cloves Messern könnte sie unbemerkt von hinten treffen und dann wäre es das mit Narie. Noch eine Begegnung mit den Karrieros würde sie unmöglich überleben. Es ist schon ein Wunder, dass sie es bis jetzt lebend aus den Kämpfen heraus geschafft hat. Doch wieder einmal dankt sie Blight und Johanna innerlich für das Training. Narie läuft schnell und leise, sieht sich ständig um ob sie jemanden sehen kann, doch nichts. Weit und breit kann sie niemanden sehen und sofort entspannt sie sich ein wenig. Also läuft sie schnell weiter.

Doch schon in dem Moment als Narie den See erreicht bereut sie es, dass sie hier her gekommen war. Neben ihr ertönen Geräusche, so als würde jemand im Busch neben ihr hocken und nur darauf warten, dass sie einen Moment lang nicht aufpasst. Doch diesen Gefallen tut Narie dem Angreifer nicht. In nicht einmal zwei Sekunden hat sie ihren Bogen gespannt auf den Busch gerichtet. Langsam und vorsichtig geht sie auf diesen zu. Vor ihr ertönt wieder das Rascheln. Sie stellt sich direkt an einen Baum, so ist ihre linke Seite im Falle eines Angriffs für den Gegner unerreichbar. Narie tritt einen Schritt näher an den Busch, dann noch einen. Als sie den gesamten Busch sehen kann, sieht sie vor sich nichts. Dort ist niemand, kein anderer Tribut der nur auf seine perfekte Chance gewartet hat. Doch stattdessen hört sie etwas hinter sich. Binnen einer Sekunde hat sie sich mit gespanntem Bogen umgedreht und ist kurz davor den Pfeil loszulassen, als sie erkennt wer dort hinter ihr steht. Es ist Marvel, welcher auch kurz vor dem Angriff stand, den Speer aber schnell sinken lässt, als er erkennt wen er beinahe umgebracht hätte. Erschrocken sieht Narie ihn an und lässt schnell den Bogen sinken, allerdings immer noch gespannt. Sie vertraut ihm noch nicht ganz, obwohl sie sich ziemlich sicher ist, dass er sie nicht angreifen wird. Wozu sonst hätte er sie so oft gerettet? Am Füllhorn, nach dem Kampf mit Clove, vor den anderen Karrieros...
»Mach so etwas nie wieder!«, zischt sie und verengt die Augen.
»Ist doch noch einmal gut gegangen.«, gibt er trocken zurück, so als hätte er nicht bemerkt, dass sie die Finger um ihren Pfeil schon gelockert hatte. Doch sie ist sich sicher, dass er es bemerkt hat.
»Wieso bist du hier? Hast du's dir doch anders überlegt und willst mich nun doch umbringen?«, fragt Narie spöttisch und sieht ihn mit hochgezogener Augenbraue an. Er grinst kurz, nicht das böse Grinsen, welcher er sonst immer grinst, sondern ein freundliches.
»Nein. Ich möchte mich mit dir verbünden.«, antwortet er und bringt damit sofort auf den Punkt, was er will. Skeptisch guckt sie zu ihm, kann aber nichts Falsches in seinen Augen erkennen.
»Und wieso sollten wir das tun?«, fragt sie nach.
»Meinst du nicht, dass wir zu zweit länger leben würden?«, er verrät ihr nicht von seinem Plan, denn ihm ist bewusst, dass sie sonst sofort ablehnen würde.
»Du meinst wohl ich lebe dann länger. Du kamst ja wohl gut ohne mich zurecht.«, grinst das Mädchen aus Distrikt 7.
»Danke dafür übrigens.«, fügt sie dann kleinlaut hinzu. Er sieht leicht überrascht zu ihr. Hatte er etwa erwartet, dass ich mich nicht bedanken werde?
»Das habe ich gerne gemacht. Also, Verbündete?«, Marvel sieht erwartungsvoll zu Narie. Diese antwortet ohne lange zu überlegen:
»Verbündete.«, und geht trotzdem wortlos an ihm vorbei. Verwundert guckt er ihr einen Moment lang nach, dann folgt er ihr in Richtung Fluss. Wortlos nimmt er zur Kenntnis, dass sie ihre Flasche auffüllt und hält Wache. Er selbst hatte seine Flasche eben erst gefüllt, das war auch der Hauptgrund wieso er sich überhaupt am See aufgehalten hatte. Als die Flasche gefüllt und im Rucksack verstaut ist richtet sie sich wieder auf.
»Okay, gehen wir. Ich will so viel Abstand wie nur möglich zu Cato und Clove bekommen.« Marvel folgt Narie wortlos, bemerkt aber, dass sie immer noch aufmerksam und jederzeit angriffsbereit ist. Er kann es verstehen, wenn die Situation anders herum wäre, wenn er in ihrer Haut stecken würde, dann würde er ihr auch nicht trauen. Es ist nun Mal so, dass er diese ganzen Kinder getötet hat, das wird er nicht mehr rückgängig machen können. Doch dann fällt ihm ein, dass Narie einen Jungen getötet hat. Am Füllhorn. Der Junge hatte Jade angegriffen und Narie hatte ohne zu zögern geschossen um Jade zu schützen. Doch er weiß auch, dass er dasselbe machen würde, wenn er damit Narie beschützen kann...
»Wohin gehen wir?«, fragt er nach einem Moment Ruhe.
»Ich kenne einen guten Platz zum Verstecken.«, meint sie nur und zieht blitzschnell einen Pfeil aus dem Köcher, als sie etwas vor sich hört. Sie verengt die Augen und stellt sich näher an den Baum zu ihrer Rechten. Marvel scheint kurz irritiert, stellt sich dann aber hinter sie. Beide beobachten zusammen, wie Thresh vor ihnen durch den Wald läuft, scheinbar auf der Suche nach etwas oder jemandem. Instinktiv drückt sich Narie noch etwas näher an den Baum. Sie will Thresh nicht töten müssen, das wäre Rue gegenüber nicht fair. Er soll einfach weiter gehen und die beiden nicht sehen, sondern sie in Ruhe lassen. Doch natürlich klappt das nicht so wie sie es sich wünscht. Thresh sieht Narie und geht einen Schritt in ihre Richtung. Narie zieht fast unbemerkt die Sehne ein Stück weiter, sodass sich der Bogen stärker spannt. Gerade als Thresh etwas sagen will ertönt Catos Stimme.
»Ich habe ihn da hinten gehört!«, meint er laut und innerlich schlägt sich Narie vor den Kopf. Ja, das ist wirklich eine gute Taktik um Gegner zu überraschen...
»Los, verschwinden wir!«, zischt Marvel Narie zu, welche sich schnell aufrichtet und losrennt. Sie kann gut hören, dass Thresh auch losläuft, allerdings in eine andere Richtung. Beide lauschen aufmerksam wem die Karrieros folgen. Zu ihrem Glück verfolgen sie Tresh.
»Glück gehabt.«, gibt Narie außer Atem von sich.
»Das kannst du wohl laut sagen.«, meint Marvel daraufhin.
»Lieber nicht, sonst haben wir die beiden Karrieros doch noch auf dem Hals.«, sagt Narie dann, man hört, dass sie das als Witz meint. Marvel lacht leise. Plötzlich bleibt Narie wieder stehen. Marvel kann gar nicht so schnell reagieren, da lässt sie den Pfeil auch schon los und ein Vogel landet vor seinen Füßen, mitten in ihm steckt Naries silberner Pfeil. Diesen zieht sie heraus und wischt ihn an der Hose ab. Dann sieht sie ihn auffordernd an. Marvel versteht was sie will und sammelt schnell ein paar Stöcker um ein Feuer zu machen. Während Narie den Vogel brät, achtet Marvel darauf, dass sich ihnen niemand nähert. Allerdings ist diese Wahrscheinlichkeit gar nicht mal so groß, denn so viele Tribute befinde sich nicht mehr in der Arena, da ist die Wahrscheinlichkeit auf einen von ihnen zu treffen gering. Hat man ja eben mit Cato, Clove und Tresh gesehen., denkt Narie dann aber sofort sarkastisch. Schon nach kurzer Zeit ist der Vogel durch und Narie packt ihn ein. Dann setzt sie sich den Rucksack wieder auf und beginnt das Feuer auszutreten.
»Okay, verschwinden wir hier.«, sagt sie dann und Marvel sieht wieder zu ihr. Er nickt ihr zu und sieht erwartungsvoll zu ihr. Narie versteht und geht vor. Beide laufen noch lange durch die Arena, noch mehrere Stunden, dann kommen sie in das Gebiet wo Jade gestorben ist. Narie blinzelt sich schnell die Tränen weg, doch geht stur weiter. Marvel ist das natürlich aufgefallen, doch er kommentiert das nicht, sondern geht weiterhin stumm neben ihr her. Dann irgendwann kommen sie endlich wieder an dem Baum an, auf dem Narie den Großteil ihrer Zeit hier verbracht hatte. Sie hängt sich den Bogen um und klettert hoch. Marvel folgt ihr. Beide setzen sich hin, dann beginnen sie den Vogel zu essen.

Fighter || Hunger GamesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt