Zwanzig

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„Wann sind wir da?", quengelte Ben, der neben mir im Zug saß. „Bald." „Wann ist bald?" Ich verdrehte die Augen. Wir fuhren jetzt seit gut drei Stunden, und es würde zwei weitere dauern, bis wir ankommen würden. „Mach deine Hausaufgaben und les ein bisschen, dann sind wir da. Okay?", schlug ich so geduldig wie möglich vor, bevor ich mich wieder meinem Handy widmete. Noch dreißig Prozent Akku, toll. Mit etwas Glück überstand es die restliche Fahrt, doch dann würde es den Geist aufgeben. Wie praktisch, dass ich meine Powerbank zuhause liegen gelassen hatte. Nun durfte ich zwei Wochen ohne mobile Aufladegelegenheit verbringen.
Was solls, ich hatte in Berlin sowieso keine Freunde.
Wie denn auch?
Seufzend löste ich mich von Instagram und schrieb Alex eine Whatsapp, auch wenn ich bezweifelte, dass er um zehn Uhr morgens in den Ferien wach war.
‚Ich hasse Zugfahren.'
„Lenny? Was ist einhundertdrei plus fünfhundertsechs?", fragte Ben und riss mich somit aus den Gedanken. „Was ist drei plus sechs?" „Neun." Und was ist einhundert plus fünfhundert?2 „Sechshundert." „Also?" „Sechshundertneun, danke!"
Mein kleiner Bruder strahlte als wären Ostern und Weihnachten auf einen gemeinsamen Tag gefallen. Mathe gehörte nicht unbedingt zu seinen Stärken.
Zu meinen auch nicht, und trotzdem muss ich darin Abitur machen.
Mein Handy vibrierte sanft in meiner Hand, zeigte eine neue Nachricht an. Von Alex.
‚Ja, die Zeit könnte man viel besser nutzen. Mit Sex zum Beispiel.'
Kurzentschlossen rief ich ihn an, und er meldete sich mit einem verschlafenen ‚Morgen.'
„Bist du echt so notgeil?" Eigentlich hatte ich schärfer klingen wollen, doch dies war beim Klang seiner Stimme praktisch unmöglich. Er klang einfach niedlich, wenn er gerade erst aufgewacht war.
„Nein, das kann ich mir nicht leisten, wenn du Ewigkeiten von mir entfernt bist. Du hast mich übrigens geweckt."
„Oh, das tut mir jetzt aber leid", antwortete ich ohne jegliche Reue. Schließlich war ich gezwungen gewesen, um sechs Uhr morgens aufzustehen!
Er ging nicht auf meinen Sarkasmus ein. „Ich hasse Weihnachten. Da ist alles so harmonisch, und drei Tage später bekriegen sich alle", beschwerte er sich empört.
„Erinnere mich daran, dass ich dich bei meiner Rückkehr schlage und nicht küsse, damit du nicht noch mehr Harmonie abbekommst."
„Nein, so war das nicht gemeint. Das kannst du ruhig tun. Nur ist meine Verwandtschaft da, und die hassen sich eigentlich alle gegenseitig. Nur an Weihnachten überschütten sie sich mit Geschenken und knutschen einander ab. Gott, ich hasse meine Familie."
Same here, Alex.

Jubelnd stürmte Ben auf unseren Vater zu und umarmte ihn, während ich mit unseren Koffern hinterher lief. „Hey, Kumpel", begrüßte er ihn und wirbelte ihn kurz umher, ehe er sich zu mir herunterbeugte, um mich zu umarmen. „Hallo, Len." „Hi."
„Können wir heute zum Brandenburger Tor?", fragte Ben begeistert und lief etwas voraus. Papa nahm mir einen Koffer ab. „Nein, Ben. Morgen, okay? Heute bleibt ihr erst einmal zuhause. Einverstanden?"
Und wie.
Etwas, das ich nie sehen wollte? Das Brandenburger Tor. Ich verstand einfach nicht, was daran so toll sein sollte. Nur ein weiteres, riesiges Bauwerk wie der Eiffelturm oder die Freiheitsstatue. Ein Touristenmagnet. Darauf konnte ich herzlichst verzichten. Schließlich war ich um sechs Uhr aufgestanden, und nun wollte ich mich nur noch ins Bett legen und eine Folge Weihnachtsmann und Co KG angucken.
Ich war noch nie in Berlin gewesen, noch nie bei meinem Vater zu Besuch. Dennoch registrierte ich den neuen Haarschnitt, seinen schleppenden Gang und das neue Auto. Ein Mercedes C Klasse Cabrio. Schwarz.
Mama hasste Mercedes. Ich dagegen hatte die Begeisterung dafür von meinem Vater geerbt. Mit Grund, denn die Fahrt in dem Auto war angenehmer als die mit Mamas Auto. Und vermutlich wesentlich kürzer, denn Papa wohnte nicht allzu weit vom Bahnhof entfernt in einer ziemlich großen Wohnung für einen alleine lebenden Mann.
„Okay, Lenny, dein Zimmer ist da, Ben, deines da", erklärte er und wies auf zwei verschiedene Türen. Ohne mich groß in der restlichen Wohnung umzusehen, öffnete ich meine Tür und trat in den Raum. Die Wände waren vollkommen weiß, während alle Möbel schwarz waren. Eine leere Pinnwand hing an der Wand neben der Tür. Ihr gegenüber stand der Schreibtisch mit einem gemütlichen Drehstuhl, an der rechten Wand ein Bett. Und was für ein Bett. Augenblicklich ließ ich meinen Koffer los und sprang darauf. Ich versank förmlich in den Kissen und der weichen, bequemen Matratze. Das schrie nach einem Selfie. Schnell hatte ich mein Handy aus der Hosentasche gekramt, um die letzten fünf Prozent Akku für ein Selfie auf Snapchat zu verbrauchen.
Eine Minute, nachdem ich das Foto gepostet hatte, schaltete es sich aus. Stöhnend rollte ich mich herum, in der Hoffnung, irgendwie aus diesem Bett zu kommen. In der Tat schaffte ich es, wenn auch mühsam.
Zu meiner Freude entdeckte ich direkt neben dem Kopfende eine Steckdose, in die ich mein Ladegerät steckte. Anschließend öffnete ich den großen Schrank, der sich als leer entpuppte. Das ließ sich ändern.
Während ich meine Kleider einräumte hörte ich Musik über die Boxen, die ich auf der Fensterbank über dem Schreibtisch gefunden hatte. Gab es eigentlich irgendetwas nicht in diesem Zimmer? Sogar einen Fernseher hatte ich gefunden, gegenüber des Bettes. Zwar nicht unbedingt sehr groß, aber neumodisch und angenehm in der Größe.
Die Tür öffnete sich mitten in ‚Papercut' und Ben kam herein. „Papa will wissen, was du auch deine Pizza haben willst. Wir bestellen eine zum Mittagessen." „Schinken und Oliven wären cool." „Okay!" Fröhlich pfeiffend ging er wieder heraus, und ich beschloss, es ihm gleichzutun. Ich entdeckte meinen Vater und ihn im Wohnzimmer, das offen am Ende des Flurs lag.
„Hand aufs Herz, Papa, wie viel verdienst du eigentlich?"

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