Vierundzwanzig

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An Silvester ging ich feiern. Ich schnappte mir Alex und Julia und besuchte die Party einer Mitschülerin, deren Eltern in Hamburg waren. Geschäftlich. Und Magdalena war in der Lage, eine riesige Fete steigen zu lassen, mit allem drum und dran. Dank ihres Alters von stolzen neunzehn Jahren (sie hatte die achte Klasse wiederholt) war Alkohol massenweise vorhanden, eigens von ihr besorgt. Die Stereoanlage, die ihre Eltern sicherlich nicht hatten installieren lassen, damit rund sechzig (oder mehr) Jugendliche unter Alkoholeinfluss über den Parkettboden tanzten. Eine Säule diente als Stange für diverse Stripshows, die eine peinlicher als die andere. Aber das taten betrunkene Menschen nun mal: Sich blamieren, sich enthemmt gegenseitig die Zunge in den Hals stecken und später hinter irgendwelche Büsche kotzen.
Und ich war mitten in dieser Meute und versuchte verzweifelt, irgendwie zu dem Büffet zu kommen. Es war zwar schon so gut wie leer, doch ich konnte noch zwei Schokofrüchtespieße sehen. An meinem Ziel angekommen schnappte ich mir den Spieß und sah von meinem Standpunkt aus zu, wie Malika vergeblich versuchte, die Säule hochzuklettern. Dabei ähnelte sie eher einem Dackel mit Minikleid und Kletterneigung, als sie sich mit den nackten Füßen an dem Beton festhielt und dabei ihre Zunge in dem rechten Mundwinkeln geklemmt hatte. Es sah zum Schießen aus, doch ich hatte zu wenig intus, um zu lachen. Ständig musste ich daran denken, dass mein Vater vermutlich schon tot war. Er hatte mir schließlich gebeichtet, dass er sich umbringen wollte. Mithilfe von Ärzten.
Ich war überrascht, wie schnell alles gegangen war. Weihnachten, die Verabschiedung, die Zugfahrt zurück. Ben wusste von allem nichts, weshalb er sich gewundert hatte, warum ich Papa so fest in die Arme geschlossen hatte.
Alex tauchte neben mir auf und reichte mir eine Weinschorle.
„Du bist zu unglücklich, um hier zu sein, Lenny", schrie er mir über die laute Musik hinweg zu. Ich schüttelte lediglich den Kopf. Nein, ich würde nicht gehen. Schließlich war ich hier um zu feiern, nicht um zu trauern. Also leerte ich mein Getränk und zog meinen Freund auf die Tanzfläche, wo ich ihn in einen Kuss zog. Ja, vielleicht wollte ich ein wenig mit ihm angeben. Besonders Malika gegenüber, die ich einfach nicht ausstehen konnte.
In einem halben Jahr würde ich sie so oder so loswerden. Da konnte ein bisschen Knutschen mit ihrem Schwarm (und meinem Freund!) ja kaum schaden.
Außerdem wollte ich es ihr Heimzahlen. Sie hatte mich einfach zu oft eifersüchtig gemacht. Obwohl Alex mein Freund war und ich definitiv etwas für ihn empfand, machte sie sich dauernd an ihn ran. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn liebte, aber ich war in ihn verliebt, was genug war, um jeden verzweifelten Versuch ihrerseits mit einem Mord an ihr zu rächen.
„Nehmt euch ein Zimmer!", rief ein Typ aus meinem Englischkurs, nachdem wir ihn angerempelt hatten, senkte seine Lippen aber schnell wieder auf die seiner Freundin.
Alex und ich wechselten einen Blick. „Raus?", fragte er dicht an meinem Ohr, als jemand die Musik lauter drehte. Ich nickte.

Die Abendluft war angenehm kühl auf meiner verschwitzen Haut. Okay, ja, eigentlich war es eisig. Doch ich genoss es. Es war zwar nicht still – die Musik im Haus war zu laut, und ein paar Menschen meinten wohl, die Raketen schon vor Mitternacht zünden zu müssen – doch es war angenehmer als im inneren des Hauses. Müde schloss ich meine Augen und lehnte den Kopf an Alex' Brust.
„Mein Vater ist wahrscheinlich schon tot, und ich habe nichts Besseres zu tun, als mich zu betrinken und mit dir rumzuknutschen. Ich bin eine schlechte Tochter", seufzte ich leise.
„Nein, bist du nicht. Du bist normal. Außerdem... wir könnten viel mehr tun als nur zu knutschen, Potterhead", antwortete mein Freund, schlang seine Arme um mich. Ich konnte sein Grinsen förmlich hören, was auch mir ein Lächeln entlockte.
Sanft malte er mir Muster auf die Haut. Schweigend, jeder hing seinen Gedanken nach. Dennoch mussten wir irgendwann wieder herein gehen, da mir selbst mit Alex' Armen um mich relativ schnell kalt wurde.

Drinnen wurden wir direkt von einem Abiturient begrüßt, der oben ohne durch die Gegend lief und Leute umarmte. „Das Leben ist so schön, Blümchen!", schrie er in mein Ohr, als er seine Arme kurz um Alex und mich schlang, bevor er nach rechts verschwand.
Wir wechselten einen Blick und prusteten los. Scheinbar hatte die Wirkung des Alkohols Wirkung gezeigt.
Allerdings wurden wir schnell wieder ruhig, als jemand auf die Uhr sah und daraufhin die Musik abdrehte. „Es ist zehn vor Mitternacht, Leute!", brüllte ein Mädchen, das die Säule erklommen hatte. Augenblicklich strömten alle nach draußen, um den Beginn des neuen Jahres zu feiern. Schon ein paar Minuten vor zwölf ging das große Feuerwerk los, was die betrunkene Meute, die aus Magdalenas Haus strömte, allerdings nicht aufhielt. Staunend betrachteten wir den Himmel, ohne selbst zum Feuerwerk beizutragen.
Alex nahm meine Hand und lächelte mich an. Dann schrie jemand laut: „FÜNF!"
Wir anderen stimmten ein:
„VIER!"
„DREI!"
„ZWEI!"
„EINS!", brüllten alle und johlten, während ich von meinem Freund hochgehoben und geküsst wurde.
Happy New Year, Helen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 30, 2016 ⏰

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