Kapitel ~6~

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Als meine Mom ruft, dass es Zeit ist, rüber zu gehen, zeigt mir die Uhr, dass es gerade mal halb sechs ist. Ich schlüpfe in meine weissen Ballerinas und schnappe mir mein Handy, ehe ich nach unten gehe. Mom wartet schon bei der Haustür auf Finn und mich.
Wie es scheint, bin ich vor Finn unten, denn ich höre ihn hinter mir trampelnd nach unten kommen.
"Habt ihr alles? Dann gehen wir rüber." Finn verlässt zuerst das Haus, dann ich und anschliessend Mom. Sie schaut nochmal kurz in das Haus und schliesst dann die Haustür ab. Den Schlüssel steckt sie in ihre Handtasche und wir gehen zu der Familie Dawn. Mom klingelt und keine Sekunde später wird die Tür von einer jungen Frau aufgemacht.
"Ah Melinda! Und das müssen deine Kinder sein? Kommt doch rein!"
Sie sieht kaum älter als 30 aus, was mich verwundert, denn Damien ist ja 19, sofern man seinen Worten Glauben schenken kann... Aber der erste Eindruck kann ja immer trügen, wie man so schön weiss. Die Frau lässt uns eintreten und drinnen schlägt mir sofort ein bekannter Geruch entgegen.
Es duftet im ganzen Haus nach Zimt und Orange. Wie Damien als er... mir so nah war... Schon wieder stellen sich mir die Haare zu Berge und ich bekomme Gänsehaut.
Wir treten einen langen Flur entlang und erreichen ein grosses Wohnzimmer, in dem eine braune Ledercouch und zwei Ledersessel stehen. An der Wand hängt ein grosser Flachbildschirm-Fernseher.
Auch findet sich eine grosse Glastür zum Garten und draussen sieht man eine bequeme, beige Hollywood-Schaukel im Wind sanft hin- und herwiegen.

Finn springt sofort auf die Couch und macht es sich dort gemütlich. Mom setzt sich zivilisiert auf einen der Ledersessel. Die Frau kommt auf mich zu.
"Hallo, du musst Aria sein. Ich bin Christina, Damiens Mutter." Sie hält mir freundlich lächelnd die Hand hin.
"Ja ich bin Aria" Ich schüttele aus Höflichkeit und Anstand ihre Hand. Sie ist klein, sogar kleiner als meine und von ihr geht eine seltsame aber dennoch angenehme Kälte aus.
"Damien kommst du bitte runter? Unsere Nachbarn sind da!" ruft sie nach oben. Sekunden später steht Damien auch schon im Wohnzimmer neben seiner Mutter. Er sieht kurz zu mir und dann zu meiner Mom.
"Guten Abend. Sie müssen Arias Mutter sein?" sagt er und hält ihr die Hand entgegen. Meine Mom steht auf und schüttelt sie ihm.
"Ja ich bin Melinda. Aria kennst du ja bereits und das hier", sagt meine Mom und zeigt auf meinen Bruder, "das ist mein Sohn Finn, Arias kleiner Bruder." Finn sieht kurz zu Damien und sieht sich dann weiter im Wohnzimmer um.
"Damien warum zeigst du Aria nicht ein wenig unser Haus? Melinda und ich wollen uns ein wenig unterhalten." Dann wendet Christina sich Finn zu.
"Und du Finn, du darfst gern den Fernseher anmachen und schauen wenn du möchtest." Finn sucht sofort die Fernbedienung und macht den Fernseher an. Mom und Christina verschwinden in die Küche. Somit bleiben Damien und ich, geistig anwesend natürlich, allein im Wohnzimmer zurück.
"Komm mit" sagt Damien und macht sich auf den Weg nach oben. Wortlos und stumm folge ich ihm. Die braune Wendeltreppe enthüllt oben einen Flur. Auf beiden Seiten ziehen sich je zwei Türen nach hinten. Damien biegt in die zweite Tür rechts ein. Ich folge ihm. Kaum trete ich ein, schliesst Damien hinter mir die Tür.

Das Zimmer ist ziemlich gross, vielleicht sogar grösser als meins. An den Wänden hängen ein oder zwei Poster von irgendwelchen Bands, die ich nicht kenne. Vermutlich aus früheren Jahrzehnten oder so... Zumindest sagen mir die Gesichter der Mitglieder rein gar nichts.
Links an der Wand steht in der Mitte ein grosses Bett, auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich ein Schreibtisch auf dem einige Bilder aufgestellt sein.
Gerade aus ist ein Balkon mit Blick in Richtung Strasse. Links und rechts vom grossen Bett steht jeweils ein kleiner Nachttisch. Wiederum links vom Bett neben dem Nachttisch steht ein grosser Schrank mit Spiegeltüren.
"Wow..." Ich gehe zu dem Schreibtisch und sehe mir die Bilder an. Auf den meisten sind zwei Jungen zu sehen. Der eine sieht aus wie Damien, der andere ist mir unbekannt, aber er hat gewisse Ähnlichkeiten mit ihm, wie zum Beispiel die Augenfarbe. Sie haben beide diese Bernstein Augen.
"Wer... Wer ist das?" platzt es aus mir heraus. Damien steht neben mir und nimmt mir das Bild aus den Händen, das ich eben angeschaut habe.
"Niemand" sagt er mit starker Stimme.
"Der Junge hat gewisse Ähnlichkeiten mit dir... ist das... dein Bruder oder so? Falls du einen hast... Ich weiss ja nicht ob du einen Br-" Er schneidet mir das Wort ab.
"Das geht dich nichts an!" In seiner Stimme liegt etwas kaltes, wenn nicht sogar verletztes...
"Damien..." Mittlerweile sitzt er auf der Kante seines Betts. Zögernd gehe ich auf ihn zu und setze mich neben ihn.
"Es ist eine lange Geschichte..." seufzt er schliesslich und lässt den Kopf hängen. Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter.
"Willst du... darüber reden?" frage ich und warte seine Antwort ab. Er hebt ein wenig den Kopf an und sieht mich von der Seite an. "Ich hör dir gern zu, wenn du möchtest..." Etwas besseres fällt mir nicht ein, was ich hätte sagen können. Damien atmet einmal tief ein und aus. Dann fängt er zu reden an.

"Ja, das ist... war... mein kleiner Bruder... Mason. Aber... er ist vor Jahren verschwunden... Und das ist meine Schuld... Das hier ist das letzte Bild, dass meine Mom von uns zusammen gemacht hat. Es war im August vor 10 Jahren... Ich war 9, mein Bruder 8. Wir hatten nichts als Unsinn im Kopf und damals ging in Phoenix ein Gerücht umher, dass im Wald am Rande der Stadt ein Ungeheuer leben würde. Mason und ich wollten immer Abenteuer erleben also beschlossen wir, in einer dunklen Vollmondnacht in den Wald zu gehen, und dieses Ungeheuer zu suchen..."
Er hält kurz inne bevor er weitererzählt.
"Wir hatten Taschenlampen mitgenommen und einige Batterien, falls wir sehr lange unterwegs gewesen wären... In unseren Rucksäcken trugen wir ausserdem Seile, einige Kabelbinder und sogar Handschellen mit, für den Fall, dass wir das Ungeheuer finden würden."
"Und... habt ihr das Ungeheuer gefunden?" Ich weiss nicht, warum ich das gefragt habe, aber es platzte einfach aus mir heraus.
"Nein... Zumindest ich nicht. Wir waren ganz tief im Wald unterwegs, als wir anfingen, seltsame Geräusche zu hören. Immer wieder hörten wir auch Äste knacken und Blätter rascheln. Links und rechts, vor und hinter uns. Und immer wieder huschte ein Schatten über unseren Köpfen hinweg. Auch wenn ich Abenteuer mochte, ich hatte meinem Bruder gesagt, dass ich keine Lust mehr hätte und nach Hause gehen wollte, aber er bestand darauf, die Suche fortzusetzen. Da ich ihn kaum allein lassen konnte, musste ich ihn weiterhin begleiten. Aber irgendwann machten mir die ständigen unheimlichen Geräusche zu viel Angst und ich hab mich versteckt. Dummerweise habe ich dabei Mason aus den Augen verloren. Nur Sekunden später hörte ich einen markerschütternden Schrei meines Bruders. Ich hatte gewaltig grosse Angst. Ich hätte meinem Bruder helfen sollen aber... aber stattdessen war ich ein elender Feigling und bin davon gerannt. Aus dem Wald und nach Hause gerannt. Ich habe meinen Bruder im Stich gelassen, weil ich ein Feigling war..." Damiens Worte klaffen ein Loch in meine Brust und es fühlt sich an, als ob meine Kehle zugeschnürt wird.
Ich kriege fast keinen Ton heraus. Damien ist inzwischen aufgestanden und hat das Bild an seinen Platz zurückgestellt. Immer noch unfähig, etwas zu sagen stehe ich auf und gehe zu ihm. Ich lege ihm meine Hand auf den Unterarm.
Über die Schulter hinweg sieht er mich an bis er sich zu mir umdreht und mir gegenüber steht. Ich schweige und glaube kaum was ich tue, aber ich lege meine Arme um ihn und umarme ihn. Erst ist er überrascht, erwidert die Umarmung dann aber.

Unsterbliche LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt