Ich mag keine neuen Erkenntnisse. Schon gar nicht diese, die mich in Verzweiflung stürzen und mich über meine ganzen Sinne und mein ganzes Sein zweifeln lassen.
Die erste Erkenntnis dieser Art, die ich hatte, war meine Sexualität. Ich lief ganz normal durch meinen Alltag und auf einmal schlug mir die Erkenntnis mit einer Wucht von 9.000 Backsteinen in Form eines braunhaarigen Jungen ins Gesicht. Ich fand ihn toll. Applaus, ich wusste, dass ich nicht asexuell war, aber DAS? Musste es ausgerechnet DAS sein? Ich hatte nicht darum gebeten und ich wollte auch mit Sicherheit auch nicht und unter keinen Umständen schwul sein. Aber so war es nun einmal und ich konnte nichts dagegen machen.
Ich hatte es auch gar nicht versucht. Diese Wucht schlug mir so derbe ins Gesicht, dass ich sogar wirklich stolperte und auf die Nase fiel. So wie ich nun einmal bin, habe ich meiner Mutter im kleinsten Detail erklärt, was da los war. Sie war nicht geschockt, höchstens etwas überrascht. Jedenfalls bekam ich einen Eisbeutel für meine Nase und einige aufmunternde Worte für mein Herz.
Meine zweite unangenehme Erkenntnis war, dass du mit deiner Sexualität häufig keinen guten Stand hast. Und bei wem vor allem nicht? Bei braunhaarigen Heterojungs, die dich angewidert anschauen, wenn du ihnen sagst, dass du sie magst.
Diese Gefühle waren ganz neu für mich, also wollte ich mich auch direkt mitteilen. Vielleicht war ich in der Hinsicht auch etwas anders als andere. Jedenfalls merkte ich recht schnell, dass es nicht die beste meiner Ideen war, ihm zu sagen, was ich fühlte.
Es war der Beginn meiner Geschichte, warum ich überhaupt umziehen musste. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass es nun eine „Schwuchtel" im Jahrgang gab. Das Echo darauf war niederschmetternd. Es wurde getuschelt, es wurde geredet und irgendwann reichte es nicht mehr nur über mich zu reden, nein. Man musste direkt die Schwuchtel anstacheln, gucken, ob sie denn auch genauso tuckig war, wie man es von den ganzen Klischee-Fernseh-Schwulen so kannte. Und wenn ich nicht heulte, dann gab es eben eine noch größere Ladung an Schikanen, die ich über mich ergehen lassen musste, bis ich dann wirklich weinte. Und das tat ich auch irgendwann. Aber selbst da war es noch nicht genug. Zum Glück zog ich da einen Schlussstrich und sagte: „Jetzt ist genug."
Meine dritte furchtbare Erkenntnis bekam ich dann, als Vincent mich in seinen Armen hielt. Sie war vergleichbar mit der ersten Erkenntnis, wieder war es ein braunhaariger Junge. Aber diesmal war die Wucht, die mich traf so stark wie ein ganzer Orkan, der mich Kilometerweit mitreißt, in Stücke reißt und in nicht mehr identifizierbaren Fetzen hinterlässt.
Vincent gab an diesem Abend nicht auf. Er strich mir unerlässlich Stränen aus den feuchten Augen, erzählte mir beruhigende Dinge, fragte mich nach schönen Ereignissen, die ich mit meinem Großvater hatte und war mir allgemein ein guter Freund. Ich sagte ihm aber nichts. Den Fehler hatte ich bereits einmal gemacht und ich musste ihn nicht wieder machen. Ich wollte diese Freundschaft nicht gefährden.
Irgendwann im Laufe des Abends, holte Vincent Stracciatella-Eis und zwei Löffel. Eine sehr gute Idee, wie ich fand. Er erzählte mir, dass Eis essen sein Stress Level sehr senken würde. Daraufhin konnte ich nicht anders und fragte ganz entsetzt, wo er das ganze Eis ließ. Wenn man ihn mal genau betrachte, was der Typ auch einfach nur durchtrainiert. Es schien schon fast so, als wäre da nicht ein Gramm Fett an seinem Körper. Seine Antwort war jedoch nur mit einem Schulterzucken. „Training und Eis ist eben auch nicht immer da", sagte er darauf.
Ich ging nicht weiter drauf ein, sondern löffelte weiter mein Eis und betrachtete ihn.
Vermutlich sah es so aus, als wolle ich herausfinden, wo er das ganze Eis ließ. Die Realität war aber ganz anders. Ich versuchte herauszufinden, was da mit meinem Herz passierte, mit meinem Kopf. Sie arbeiteten plötzlich nicht mehr zusammen, sie bekriegten sich und das auf eine sehr unangenehme Art und Weise.
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Schuld
Teen FictionTheo Theodor musste die Schule wechseln. Auf seiner alten Schule hatte er es gelinde gesagt nicht einfach. Nun hofft er, dass auf seiner neuen Schule alles besser wird. Doch die dunkle und niederschlagende Atmosphäre macht ihn stutzig. Genauso stutz...