10. Die typische Reitermentalität

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10. Die typische Reitermentalität

Wie um diesen Schlussstrich zu unterstreichen kam in diesem Moment Amelie als eine willkommene Ablenkung in den Stall und grinste mir fröhlich entgegen, zum Glück nichtsahnend von dem, was mich gerade so beschäftigte.

"Na wie geht's?"
"Och, naja, ganz gut.. Was gibt's neues?"
Auf diese Frage hatte Amelie anscheinend nur gewartet, denn die Worte sprudelten aus ihr wie ein Wasserfall:
"Hoor ich reg mich sooo auf wegen Anita, erzählt sie mir doch tatsächlich vor ein paar Tagen, dass sie einen Freund hat!" Aha, also wusste sie es jetzt auch endlich. Ich wunderte mich nur ein wenig, dass ich es vor Amelie, die eigentlich den Platz als Anitas beste Freundin beanspruchte, erfahren hatte. Aber bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, redete Amelie schon weiter: "Also ich find das ja echt nicht ok, wenn ich ehrlich bin, dass sie so eng mit Mike befreundet ist und er doch sogar für sie offensichtlich was von ihr will, und sie dann so was abzieht. Ohne ihm was davon zu sagen. Also ich find echt, sie geht langsam ein bisschen zu weit! Und einmal schwärmt sie mir vor, wie süß sie Mike doch findet und dass sie sich was mit ihm vorstellen könnte, und dann ist sie plötzlich wie ausgewechselt und meint wie hässlich und dumm sie ihn doch findet... Wie kann man nur so unentschlossen sein!? So kann das nicht weiter gehen! Also sag mal, was sollen wir tun??"

Abwartend und zufrieden über ihre lange Rede blickte sie mich jetzt an.
Aber ich hatte leider nicht die leiseste Ahnung. War es überhaupt eine gute Idee, sich hier einzumischen?

Vielleicht würden wir mehr zerstören als helfen. Aber andererseits hatte Amelie recht- so konnte es nicht weiter gehen mit den zweien, sie brauchten eindeutig Hilfe von außerhalb. Anita, weil sie sich verhielt wie ein kleines Kind, das nicht weiß was es will, und Mike weil er sich trotz seines Alters so schrecklich unbeholfen und verletzlich zeigte und das einfach in jedem Mädchen einen gewissen Beschützerinstinkt hervorrief.

Als ich so mitten in meinen Gedanken versunken war, fiel mir plötzlich auf, dass ich das Kapitel 'Florian' und den gestrigen Abend tatsächlich schon fast  verdrängt hatte. Mein Plan war also aufgegangen, bemerkte ich zufrieden. Und jetzt zurück zu den wichtigen Dingen. Ich sollte schließlich demnächst mal antworten...

"Hm ich weiß nicht, ob wir uns da einmischen sollten.. Wir könnten natürlich Mike von Anitas 'Freund' berichten. Aber nicht, dass nachher erst Anita auf uns losgeht, weil wir sie verpetzt haben und dann Mike und Miriam uns auch noch hassen, weil wir.. keine Ahnung, so gemein waren oder den Frieden zerstört haben oder so.." Und Amelie würde sich dann am Ende noch irgendwie versuchen herauszureden, damit sie nicht alleine dasteht. Verständlich. Und dann stünde ich alleine da. Scheiße. Aber diesen Gedanken behielt ich natürlich für mich.

Wir diskutierten zwar noch eine Weile hin und her, kamen aber zu keinem anderen Ergebnis als dem, dass wir allem seinen Lauf lassen sollten, es jedoch Mike erzählen würden, wenn die Situation sich weiter zuspitzen würde. Insgeheim war mir klar, dass ich diejenige sein würde, die es früher oder später ausplappern würde, weil sie mal wieder ihren Mund nicht halten konnte. Denn was Geheimnisse angeht, dürfte man mir rein gar nichts sagen. Ich wollte nie jemanden verpetzen oder so, aber irgendwie habe ich einfach ein riesiges Bedürfnis, mich mit anderen über solch bedeutsame Dinge auszutauschen. Ich konnte es fast nicht ertragen, wenn ich etwas wusste, was meinen Gegenüber brennend interessieren würde, und ich nichts sagen durfte. Eigentlich ja die typische Reitermentalität, stellte ich fest. Weil seien wir mal ehrlich: die große Mehrheit aller Reiter liebt es einfach, sich über andere zu unterhalten, was ja nicht unbedingt in Lästerei enden muss. Aber wir haben eben ein immenses Mitteilungsbedürfnis.

Dieses ließ mich am Abend Janinas Nummer wählen. Sie ritt zwar meistens in einem anderen Stall (seit kurzem nahm sie auch hier die ein oder andere Reitstunde), war aber stets top informiert über die jüngsten Ereignisse im Stall und über dessen Akteure, die sie inzwischen auch alle persönlich kennen gelernt hatte.

Also machten wir kurzfristig was aus und ich redete mir mein Leid von der Seele, wobei ich natürlich auch Florian nicht außer Acht ließ. Eingehend wurde beleuchtet, ob sein seltsames Verhalten nur auf den Alkohol oder auf ein verliebt-sein hindeutete, bis wir zu den Schluss kamen, dass ich einfach abwarten sollte, wie er morgen in der Schule auf mich reagiere.

Doch der morgige Schultag erschien für mich als einen Menschen, der nicht gern im Mittelpunkt steht, als die Hölle auf Erden! Gefühlte 80% der rund 1000 Schüler unserer Schule starrten oder grinsten mich verstohlen an und die meistens aus meiner Stufe lachten mich sogar offen aus. Wobei man es ihnen zu Gute halten musste, dass es kein böse gemeintes Lachen war. Ich kannte genug Leute, die sich über so viel Aufmerksamkeit sogar freuen würden und stolz über die eigenen Eskapaden die Gänge entlang schreiten würden, aber so war ich nicht. Ich wäre am liebsten im Boden versunken! Und dann hätten wir auch noch Nachmittagsschule... die Mittagspause... schnell entschlossen machte ich mich um 1 auf den Weg zu meinem zum Geburtstag bekommenen Auto getauft auf den Namen Daisy (sie war weiß wie ein Gänseblümchen ;) ) und schwänzte kurzerhand die Mittagsschule. Da sollte noch einmal einer sagen, ich wäre ein Streber! Ich lernte wenig und machte nie Hausaufgaben, aber hatte einfach das Glück -außer in Französisch (wo wir eine extrem anspruchsvolle Lehrerin hatten, die eigentlich nur Florian um seinen Finger wickeln konnte) - trotzdem meist gute Noten zu schaffen. Aber jetzt ab nach Hause, mein Magen meldete sich schon vor Hunger. Und wenn ich meinem Papa erklärte, dass die letzten zwei Stunden 'ausgefallen' waren, würde er mir bestimmt etwas kochen. Bei uns war nämlich mein Papa der Hausmann und meine Mutter ging arbeiten.
Ich hatte es eigentlich schon gut getroffen mit meinem Leben. Hätte genauso gut als aidskrankes Waisenkind in Afrika aufwachsen können. Stattdessen wartete ich auf mein Mittagessen und die einzigen Probleme, die ich hatte, waren diese zwei so grundverschieden Jungs.

Aber Florian, der mich übrigens den ganzen Tag lang keines Blickes gewürdigt hat, würde ich einfach vorerst vergessen und Mike würde ich demnächst mal von Anitas kleinem Freund erzählen... Wenn sich die Gelegenheit bot... Und ich mich dann auch trauen würde...

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