Telefone mit Wählscheibe

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Dann sackt der alte Mann in die Knie. Ben schießt los und ich laufe hinterher, doch Günther kann sich fangen, bevor er die komplette Treppe herunter stürzt. Ben hilft ihm hoch.

„Komm schon, Günther, ich bringe dich zu Bett. Du solltest erstmal nüchtern werden." sagt Ben ernst und schleift den betrunkenen, übergewichtigen Mann die Treppe hoch. 

Ich helfe auf der anderen Seite mit, wir bringen Günther in das völlig vermüllte Schlafzimmer und legen ihn auf sein Bett. Er schnarcht sofort los. Ich sammele die leeren Schnapsflaschen ein, als Ben's Handy klingelt.

„Hallo, Mama... Ja. El ist auch schon hier...Gut. Bis Morgen."

Oh, Gott. Ich soll eine Nacht ALLEINE mit Ben verbringen? Nun, Günther kann man ja wohl nicht mitzählen! Ben schaut mich an und grinst.

„Ziemlich übel hier, was? Oma ist im Krankenhaus gestorben, keine Sorge."

„Sie wäre ausgeflippt, wenn sie das hier gesehen hätte! Weißt du was? Ich werde einen Reinigungsdienst beauftragen." 

Ich hole mein iPhone heraus. "Mist, kein WLan hier." fluche ich.

„WLan? Hier gibt es noch Telefone mit Wählscheibe!" lacht Ben.

„Hör auf, wir haben hier damals doch alles einrichten lassen. Hast du einen guten Empfang?"

„Ja, aber mein Datenvolumen ist komplett ausgereizt. Sorry."

Ich nicke und laufe die Treppen runter in das Foyer. Dort lag immer ein Telefonbuch. Tatsächlich werde ich fündig.

„El, wer soll den Reinigungsdienst bezahlen? Ich bin absolut blank." sagt Ben, der hinter mir her gekommen ist.

„Beruhige dich, ich kriege das schon hin."

„Hm. Du arbeitest viel, nicht? Siehst müde aus."

„Hat sich eben nicht jeder von uns wie du für die permanente Party- und Chill- Zone entschieden." knurre ich.

„Du hast von meinem Leben überhaupt keine Ahnung, Zicke!" faucht Ben plötzlich und ich zucke zusammen.

„Woho! So redest du nicht mit mir!" gebe ich energisch zurück.

„Ich kann tun, was ich will! Du bist echt n Miststück geworden." knurrt Ben und verschwindet durch eine der vier Türen.

„Und du bist..."

Doch er ist schon weg. Da ist nichts mehr von dem süßen Plappermaul übrig. Er hatte mich immer zum Lachen gebracht. Nicht wie der wortkarge, ernsthafte Jonas, der mir seine Zuneigung immer auf sehr merkwürdige Art gezeigt hatte. Nachdem die Tragödie passiert war, war er noch anhänglicher gewesen. Nun, Onkel Martin war unser Lieblingsonkel gewesen. Nein, er war eher wie ein Vater für uns beide gewesen. Denn Onkel Henning hatte tagein, tagaus auf den Feldern oder im Stall gearbeitet, genau wie meine Tante. Martin hatte zwar auch mitgeholfen, doch war oft spontan mit uns Kindern ins Grüne gefahren. Zum See und auch in die Stadt zum Bowlen. Er hatte uns ein Baumhaus gebaut, indem Jonas und ich stundenlang gehockt und gelesen hatten. Marita hatte uns immer ein Picknick hochgebracht und hatten sogar eine Nacht dort schlafen wollen. Doch mitten in der Dunkelheit hatten wir ein komisches Geräusch gehört und waren schnell wieder ins Haus gelaufen. Ach, der süße Nerd Jonas mit Brille und den  leuchtend blauen Augen. Auch er hat gelocktes Haar, kommt aber nach den rötlich- blonden Petersens. Nun ja, meine beiden Cousin's sind wahre Augenweiden! Doch während Ben offen und chaotisch ist, glänzt Jonas durch Ruhe und Verlässlichkeit.

Es klingelt und ich gehe zur Tür. Ein älterer Herr steht davor.

„Guten Tag, Bäumer mein Name. Ich bin der Notar von Frau Petersen. Mein Beileid, Fräulein Petersen."

Oh, er kennt mich.

„Danke. Was kann ich für sie tun?"

„Nun, ich konnte bisher niemanden telefonisch erreichen, es geht um das Testament. Wäre es möglich, alle Erben morgen in meiner Kanzlei zu versammeln?"

„Ich denke schon."

„Gut. Hier, meine Karte, rufen sie mich an. Sie sehen ihrer Mutter sehr ähnlich, Fräulein Petersen."

Ich lächle. Kann mich nicht an ihn erinnern, aber gut. Ich antworte:

„Ja, das habe ich schon oft gehört. Einen schönen Abend noch."

„Wer war das?" fragt Ben, als ich die Tür schließe.

Ich zeige ihm die Karte.

„Ach so. Verdammt, dass steht uns ja auch noch bevor. Wem Oma den Schuppen wohl vermacht hat?"

„Wahrscheinlich deinen Eltern, sie stehen ihr am Nächsten. Ich hoffe nur, dass sie nicht so dumm war und Günther eingetragen hat."

„Könnte so sein. Sie hat das Testament vor zehn Jahren verfasst, da hat er ihn noch hoch gekriegt."

Ich schaue ihn kopfschüttelnd an.

„Und was ist aus dir geworden? Ein sexistischer Prolet." murmele ich und lasse ihn stehen.

Rufe eine Reinigungsfirma an. Sie können morgen früh um halb neun hier sein. Nun, der Betrag wird mein ganzes Taschengeld aufbrauchen, aber die Hütte muss in Schuss sein, wenn Donnerstag die Trauergäste kommen. Warum kümmert sich Tante Veronika denn nicht um diese Dinge? War doch schließlich ihre Mutter! Aber wie immer steckt sie den Kopf in den Sand und geht in ihrem Schicksal auf- die arme, vernachlässigte Hausfrau mit dem Krüppel- Ehemann und dem mißratenem Sohn, der mich auch gerade zur Weißglut gebracht hat. Obwohl Ben und ich früher viel zusammen gelacht  haben. Ja, diese Beziehung endete, nachdem Ben die Grenze überschritten hatte. 

trío de tangoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt