Aidan
Es war eine ganze Weile her, dass ich meine Großmutter gesehen hatte. Nicht, weil ich es nicht gewollt hätte, oder Besseres zu tun gehabt hätte, oder einfach keine Zeit gefunden hätte, sie zu besuchen, sondern weil ich schlicht und ergreifend Angst vor einem Wiedersehen hatte. Die letzte Begegnung, an die ich mich erinnern konnte, war vor zehn Jahren gewesen. Und die Erinnerungen daran waren nicht die Tollsten.
Aber irgendetwas hatte mich seit einigen Tagen nicht mehr richtig schlafen lassen. Ich wusste nicht genau, was es war, aber ich konnte nicht aufhören, an meine Großmutter zu denken. Und bevor ich mir vom Arzt ein paar Schlaftabletten verschreiben ließ, redete ich lieber mit ihr.
Ich atmete noch einmal tief durch und sah zu meiner Schwester.
„Dann woll'n wir mal...", murmelte sie und lächelte mir aufmunternd zu, aber ich sah, dass auch sie sich nicht ganz wohl bei dem Gedanken daran, unsere Großmutter wieder zu sehen, fühlte. Ich drückte die weiß gestrichene Türe auf. Dicke Luft schlug mir zusammen mit dem undefinierbaren Geruch von Medikamenten entgegen. Ich sah mich um. Addie und ich standen in einem langen, hellen Flur, an dessen Wänden gerahmte, abstrakte, bunte Wasserfarben-Bilder hingen.
Addie zog sich ihre blaue Wollmütze vom Kopf und schüttelte ihre dunklen Locken aus. Dann wickelte sie sich den Schal vom Hals und öffnete ihren Mantel. Es war ein recht kalter, verschneiter Januartag. Man konnte kaum fünf Meter sehen.
Als ich noch klein gewesen war, hatten Addie und ich stundenlang in einem solchen Wetter gespielt, ohne uns darüber zu beschweren, wie eingefroren unsere Nasenspitzen waren, oder wie taub sich unsere Finger anfühlten. Wir hätten ohne zu meckern Schneemänner gebaut, Schneeengel auf dem Boden gemacht und uns mit Schneebällen durch die Straßen gejagt.
Aber wir waren eben keine kleinen Kinder mehr und im Erwachsenenalter wurde einiges grauer, trüber und weniger spaßig.
Während wir den Flur entlang bis zum Empfangsraum gingen, knöpfte ich mir ebenfalls meine Jacke auf.
„Ich frage mal, in welchem Zimmer sie ist", meinte Addie. Ich nickte und sie ging auf den Tresen zu, hinter dem eine rundliche Frau mit Brille saß.
„Rosemary Lansbury", erklärte Addie, als die Frau wissen wollte, nach wem wir suchten. Addie hatte ihre Unterarme auf den Tresen gestützt und wippte leicht auf und ab, während die Empfangsdame etwas in ihren Computer eintippte.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem hellen Aufenthaltsraum zu, von dem mich nur eine Glasscheibe trennte. An einem Tisch saßen zwei Frauen mittleren Alters und spielten Karten. Etwas weiter hinten saß ein junger Mann am Klavier und spielte, wobei er unentwegt in die Luft starrte. Irgendwie beeindruckend, aber auch gruselig. Alle trugen farblose Jogginghosen und Oberteile. Ob meine Großmutter auch in etwas so Grauem steckte?
Jeder Patient hatte entweder ein weißes oder blaues Plastikband am Handgelenk und ich fragte mich, was das bedeutete.
„Danke." Addies Stimme holte mich wieder in die Gegenwart zurück. Sie zuckte mit den Schultern.
„Gruppentherapie." Sie deutete auf zwei Stühle, die an der Wand standen. „Wir werden uns noch ein wenig gedulden müssen." Das war mir gar nicht so unrecht. So konnte ich mich wenigstens ein bisschen sammeln und mir überlegen, was ich zu unserer Großmutter sagen wollte.
Wir setzten uns auf die Plastikstühle und schwiegen um die Wette. Addie starrte auf ihre Hände, und ich zählte die Risse an der Decke.
„Was glaubst du, in welchem Zustand sie ist?", brach Addie das Schweigen. „Denkst du, sie erinnert sich an uns?"
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Shadow Girl (Band 1)
Paranormal„Es ist wie ein Spiel. Entweder du kontrollierst die Schatten, oder die Schatten kontrollieren dich." „Und du? Kontrollierst du die Schatten?" „Manchmal denke ich das." *** Hätte Aidan sein schlechtes Gewissen ignoriert und die unruhigen Nächte weit...