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Aidan

„Das war der schlimmste Tag meines Lebens", bemerkte ich, als Beverly und ich irgendwann, mitten in der Nacht, endlich die Gelegenheit gehabt hätten, zu schlafen, aber beide bereits so übermüdet waren, dass wir nicht einschlafen konnten.

„Ich wünschte, ich könnte dasselbe sagen", gähnte sie, und zog sich die Decke enger um den Körper. „Aber meinen schlimmsten Tag hab ich schon hinter mir, was Schlimmeres kann mir nicht mehr passieren." Ich zog meinen linken Arm unter der Decke hervor, um Beverly noch näher an mich zu drücken. Ihre Nähe ließ mich ruhig werden, zwar spürte ich immer noch eine gewisse Aufregung in meiner Brust, aber die würde wohl nie weggehen.

„Ist doch super. Dann geht es von jetzt an nur noch bergauf." Sie lachte spöttisch auf.

„Wenn die Hölle auf dem Gipfel eines Berges liegt, dann schon." Ich musste lächeln, obwohl mir nicht nach Lachen zumute war. Eher im Gegenteil.

„Alles okay bei dir?", fragte sie dann. Eine simple Frage, die ich mit Ja oder Nein hätte beantworten können. Aber jetzt, da sie mir so direkt von Beverly gestellt wurde, kam sie mir alles andere als einfach vor. Also ließ ich sie unbeantwortet im Raum stehen.

„Was will Vaya von mir?"

„Dich beschützen."

„Das habe ich auch mitbekommen, vielen Dank." Ich hatte nicht so gereizt reagieren wollen, aber Beverly sah nur müde auf, und störte sich nicht weiter an meinem Tonfall. „Ich meine, warum will er das? Geht es dabei um Addie?"

„Glaube ich nicht. Du wärst, nach Trev, das perfekte Druckmittel gegen sie, aber Vaya würde dich nie einsetzen."

„Aber wieso?" Es war frustrierend, dass um jeden Mist so ein Geheimnis gemacht wurde. Ich war nicht Sherlock, verdammt. Aber auch Beverly konnte mir keine Antwort auf meine Frage geben.

„Vielleicht wegen deiner tollen Haare", stichelte sie, um mich aufzumuntern, und brachte mich zum Schmunzeln. Ich wusste zwar nicht, wie sie es schaffte, mich von einem temporären Tiefpunkt innerhalb weniger Sekunden rauszuholen, aber sie hatte es geschafft. „Oder wegen deiner schönen Augen."

„Mach weiter, was ist noch atemberaubend, an mir?"

Empört wand sie sich aus meiner Umarmung, stützte sich auf ihrem Unterarm ab, und sah mich an. „Das Wort atemberaubend, hat nie meinen Mund verlassen."

„Findest du nicht, dass ich atemberaubend bin?"

„Ich finde, dass du durchschnittlich bist", lächelte sie. „Und eingebildet."

„Dann hör auf, mein Ego so zu pushen."

Sie legte ihre freie Hand in meinen Nacken, und zog mich kurzerhand zu sich, um mich zu küssen. Es mag märchenhaft und kitschig klingen, aber sobald ihre Lippen auf meinen lagen, war die Welt für ein paar Sekunden in Ordnung. Addie, Vaya, Jacob -das alles spielte keine Rolle mehr. Nur sie und ich, zumindest für einen kurzen Moment, der nur uns gehörte. In unserer kleinen, heilen Welt, die die große, kaputte Welt ausblendete.

Mir war nie bewusst gewesen, dass ich nach genau einem solchen Menschen gesucht hatte. Einem Menschen, dessen bloße Anwesenheit mich beruhigte, und gleichzeitig in Aufregung versetzte. Einem Menschen, der mich innerhalb weniger Wochen gut genug kannte, um zu wissen, was er sagen und tun musste, damit ich mich augenblicklich besser fühlte. Ich hatte nicht gewusst, dass ich nach Beverly gesucht hatte.

Es war unser erster richtiger Kuss, seit dem Abend, an dem wir Addie vom Myway abgeholt hatten, aber das warme Gefühl, das meine Nerven kitzelte, war immer noch da.

Shadow Girl (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt