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Aidan

Selbst als ich wieder in meinem Auto saß klopfte mein Herz bis zum Hals und meine Hände zitterten. Ich konnte nicht glauben, dass ich Beverly wirklich wieder gesehen hatte. Ich hatte mit ihr gesprochen. Ich hatte ihre engelsgleiche Stimme hören dürfen. Und was am Wichtigsten war: Sie hatte nichts dagegen, wenn ich noch einmal vorbeikommen würde. Mir war zwar immer noch nicht ganz klar, wie ich den Mut hatte aufbringen können, sie das überhaupt zu fragen, aber das kümmerte mich auch gar nicht. Die Hauptsache war, dass ich jetzt keine Ausrede und keinen Vorwand mehr brauchte, wenn ich sie sehen wollte. In Gedanken versuchte ich unser Gespräch zu rekonstruieren, wobei mir auffiel, dass ich mich gar nicht so schlecht angestellt hatte, wie vermutet. Ich hatte nicht herumgestottert, meine Sätze waren grammatikalisch korrekt formuliert gewesen und meine Stimme hatte nicht vor Nervosität getrieft. Lediglich bei der Frage, ob ich wiederkommen könne, hatte ich ein wenig die Kontrolle über mein Sprachvermögen verloren. Ansonsten waren meine Fragen und Antworten tatsächlich meine eigenen gewesen, und nicht etwa die eines Paralleluniversum-Aidans. Ich hatte Beverly nur nicht die ganze Zeit ansehen können. Dafür war sie einfach zu schön gewesen. Ich hatte immer mal wieder eine kleine Pause gebraucht und aus dem Fenster sehen müssen, um Beverly nicht zu sehr anzustarren. Trotzdem fragte ich mich, ob ich nicht ein bisschen zu weit gegangen war sie zu fragen, wie es sich anfühlte in Modoc eingesperrt zu sein, wie sie es bezeichnet hatte. Ich hätte vielleicht auch nicht fragen sollen, was sich in der Mappe befand. Aber Beverly wirkte einfach nicht wie ein Mensch, mit dem man über oberflächliche Themen hätte reden können. Nicht einmal für fünf Minuten. Ich hatte auch nicht erwartet, dass Beverly so... ruhig war. So stoisch. Ein bisschen so wie ich. Als ich an ihr Lächeln dachte, das sie mir bei unserem Abschied geschenkt hatte, spürte ich buchstäblich Schmetterlinge in meinem Bauch, und so etwas Kitschiges war mir noch nie passiert. Ich legte den Kopf zurück und starrte an die Autodecke.

„Was machst du nur mit mir, Beverly?", murmelte ich. Alles an ihr wirkte so unfassbar anziehend auf mich und ich wusste einfach nicht wieso. Hätte meine Schwester nicht angerufen, wäre ich noch länger bei Beverly geblieben. Vielleicht sogar länger, als der Regen angedauert hätte. Aber jetzt hatte ich die Möglichkeit Beverly immer zu besuchen. Wann immer ich Zeit hatte vierzehn Stunden zu fahren.

Ich wartete noch ein paar Minuten, bis meine Hände nicht mehr zitterten und sich meine Beine nicht mehr wie Pudding anfühlten, bevor ich es wagte das Auto zu starten und mich auf den Weg nach Hause zu machen. Selbst als ich wieder auf der Straße war musste ich langsamer fahren als erlaubt, weil es so stark regnete. Und ich wollte um ehrlich zu sein nicht, dass Addies Sorgen einen Grund bekamen.

Ich fragte mich, ob das was ich über Modoc gelesen hatte nur Gerüchte gewesen waren? Skurril waren diese ganzen Artikel durchaus gewesen. Doch Trish hatte ebenfalls gemeint, dass Modoc ein unheimlicher Ort sei. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie gut sie sich mit Modoc auskannte, aber sie war allemal vertrauenswürdiger, als eine Internetseite, in der überwiegend die Wörter Verschwinden und Menschenexperimente vorkamen. Modoc hatte jedoch nur halb so gruselig ausgesehen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es schien viel eher wie ein mittelalterliches, gemütliches Schloss, das ein wenig modernisiert worden war. Und Beverly hatte ganz gesund ausgesehen. Körperlich und geistig, was mich einmal mehr zu der Frage brachte, wie sie überhaupt in eine psychiatrische Klinik gekommen war. Das musste doch einen schwerwiegenden Grund haben. Auf mich wirkte Beverly jedenfalls normal. Wahrscheinlich normaler als ich selbst, weil ich stark davon ausging, dass sie keine vierzehn Stunden Fahrt für eine ihr unbekannte Person, auf sich nehmen würde. Kein normaler Mensch würde das tun. Aber wenigstens konnte ich jetzt behaupten, dass ich Beverly kannte. Ich wusste zwar nicht viel über sie, aber ich kannte sie.

Während der ganzen Fahrt nach Hause versuchte ich ein Geheimnis aus meinem Gedächtnis hervorzukramen. Jeder Mensch hatte doch Geheimnisse, oder? Das war doch nur normal. Warum hatte ich dann keines? War mein Leben so langweilig?

Shadow Girl (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt