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Aidan

Addie hat versucht, sich umzubringen. Addie hat versucht, sich umzubringen. Addie hat versucht...

Es hatte keinen Zweck. Je öfter ich es in Gedanken aufsagte, desto unwirklicher kam es mir vor. Meine kleine Schwester hatte sich allen Ernstes die Arme aufgeschnitten, in der Hoffnung, zu verbluten. Selbst jetzt, während ich das Blut von den, sonst so weißen Badezimmerfliesen wischte, konnte ich nicht glauben, dass es tatsächlich Addie's Blut war.

Warum hatte sie das getan? Warum hatte sie sterben wollen? Was hätte ich denn bloß tun sollen, wenn es ihr gelungen wäre, sich umzubringen? Was hätte ich Mom und Dad sagen sollen?

Addie war doch eben noch meine kleine Schwester gewesen. Das nervtötende Mädchen, mit den großen, grünen Rehaugen, das so weltfremd war, dass es schon fast wieder als realitätsnah durchgegangen wäre. Das Kind, in dessen Kopf ich gerne einmal hineingesehen hätte, weil es aus dem Nichts Sachen gesagt hatte, die wohl nur für sie selbst Sinn ergeben hatten.

Wenn ich sie jetzt ansah, erkannte ich nicht mehr die lebensfrohe Addie, die alles und jeden um sich herum mit ihrem Lächeln aufmuntern konnte.

Erschöpft ließ ich mich gegen den Türrahmen sinken und versuchte mir erneut begreiflich zu machen, dass sie heute beinahe gestorben wäre. Aber ich verstand nicht.

„Das war doch absehbar." Ich sah auf. Trish stand vor dem Waschbecken, und drückte den Lappen aus. Rot gefärbtes Wasser trat heraus und gluckerte den Abfluss hinunter. Ein weiteres Stück dieser schrecklichen Nacht wurde buchstäblich fortgespült. Im Bad herrschte immer noch das reinste Chaos, und ich fragte mich, ob ich diesen Raum je wieder ohne Herzklopfen und Nervosität würde betreten können.

„Wie bitte?", fragte ich ungläubig. „Du findest, es war absehbar, dass Addie einen Selbstmord plant?"

„Sie hat ihn doch gar nicht geplant", entgegnete sie. „Addie ist nicht gerade dafür bekannt, dass sie lange nachdenkt, bevor sie handelt, oder? Sie kennt nur ein Gefühl. Und zwar das, das sie in dem Moment fühlt, in dem sie handelt." Gut, okay. Addie war nun wirklich nicht der Mensch, der rational alle Optionen durchging. Aber waren ihr ihre Gefühle wirklich so weit im Weg gestanden, dass sie nicht einmal den Wahnsinn ihres Vorhabens hatte erkennen können? Trish ließ das, noch feuchte, Tuch ins Waschbecken fallen, und drehte sich zu mir. „Das war eine Kurzschlussreaktion, genau wie mit dem Baby. Das weißt du genauso gut wie ich. Wir hätten alle damit rechnen müssen, dass bei ihr nach allem was war, die Sicherung durchbrennt." Sie setzte sich ebenfalls auf den Boden, zog die Beine an, und warf mir einen müden Blick zu. „Sie will doch gar nicht sterben."

„Woher willst du das wissen?"

„Hätte sie das gewollt, hätte sie es nicht hier getan. Wenn du mich fragst, wollte sie gefunden werden."

Ich lachte bitter auf. „Toll, dann war es also ein Hilfeschrei, den vorher keiner bemerkt hat."

„Wir haben ihn alle bemerkt." Und keiner hat etwas getan. Ich erinnerte mich daran, dass Addie unsere Hilfe vorher verweigert hatte, und sie auch jetzt nicht zugelassen hätte, trotzdem fühlte ich mich schuldig. Wir hätten nichts tun können, um ihr zu helfen, aber wir hätten etwas tun müssen.

Die Türe zu Addie's Zimmer wurde geöffnet, und Chase kam heraus. Wir hatten beschlossen, Addie heute Nacht nicht alleine zu lassen, egal, ob sie schlief, oder nicht. Beverly war noch bei ihr.

„Ist sie aufgewacht?", fragte ich hoffnungsvoll. Chase schüttelte den Kopf, und drückte die Türe hinter sich zu. Er sah genauso fertig aus, wie ich mich fühlte. Er stieß angestrengt den Atem aus.

Shadow Girl (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt