Kapitel 10

679 22 9
                                    

Pitschnass und mit Bauchschmerzen wegen meines schlechten Gewissens trabe ich nach Hause. Ich bin ein Idiot gewesen! Ein verdammter Idiot! Eigentlich wollte ich Chris ja nach sprinten, aber meine Kondition ließ noch so sehr zu Wünschen übrig, dass ich mir das gleich nach den ersten Metern aus dem Kopf schlagen konnte. Also komme ich jetzt erst an meiner Haustür an. Sperrangelweit offen steht diese. Ob er in seiner Aufregung vergessen hat, sie zu zumachen? Ob er wohl im Wohnzimmer bei den anderen sitzt? Ob er sich bei Ihnen ausweint? Nein, das würde er allerdings niemals tun. Dazu ist er zu tapfer. Und wenn doch...Wie stehe ich denn auch vor Sylvia und Mama da? Als großer Bruder, der komplett versagt hat. Ich hätte Chris auch trösten müssen und mich um ihn kümmern müssen. So wie er sich um mich gekümmert hat. Ich hätte es ihm gleichtun müssen. Aber ich habe das nicht. Ich war blind. Habe nicht gesehen, wie schlecht es meinem kleinen Bruder geht. Meinem Bruder. Mit dem ich doch so viel Zeit verbringe. Was war nur mit mir los? Ich war nicht für ihn da. Ich habe versagt.
Ein bisschen ängstlich betrete ich das Haus und schleiche zur Wohnzimmertür. Bevor ich sie allerdings öffne, setze ich das schuldbewussteste Gesicht auf, das ich kann. Hilft ja vielleicht. Also...Nur Mut! Ich stoße die Tür auf. Sylvia und Mama hocken am Esstisch und trinken eine Tasse Tee. Gemütlich sieht es aus, aber von Chris fehlt jede Spur. Als ich mich umsehe, sagt Sylvia: "Er ist oben im Gästezimmer, glaube ich!" Manchmal frage ich mich echt, ob manche Frauen vielleicht Gedanken lesen können. Unsere Schwester war immer schon Meisterin darin, obwohl sie sich nie richtig für die Zauberei interessiert hat. "Danke!", hauche ich und rase so schnell die Treppen hoch, dass ich fast gestolpert wäre. Doch ich kann mich gerade noch fangen. Glück gehabt. Kaum bin ich oben, reiße ich die Tür unseres Gästezimmers mit Schwung auf. Steffi und ich haben es irgendwann mal für meine Mutter oder andere Verwandte eingerichtet. Es steht ein großes Bett darin, ein Schrank und ein Tisch. Und es hat eine besonders breite Fensterbank. Auf genau dieser hockt Chris jetzt und starrt aus dem Fenster. Fast wie in einem schlechten Film. "Bruder!", rufe ich irgendwie erleichtert, ihn dort sitzen zu sehen. Aber er reagiert nicht, sondern blickt weiterhin starr nach draußen. Ok, er ist sehr sauer. Naja, was habe ich auch erwartet? "Es tut mir so leid, Chris! Ich wusste nicht, dass es dir so mies geht, sonst hätte ich natürlich irgendetwas gemacht! Wirklich! Du hättest sagen sollen, wie schlecht es dir geht!", platzt es aus mir heraus und ich mache eine kurze Pause, da mir in dem Moment auffällt, dass ich gerade wieder dabei bin, Chris dafür schuldig zu machen. Dabei hat er sich nichts getan! Ich war schuld. Nur ich. "Ich dachte irgendwie,...du würdest es auch so merken...", meint Chris jetzt ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Oh, wie weh es mir tut, ihn da sitzen zu sehen. Wie sehr ich mir wünschen würde, dass er sich jetzt einfach wieder umdreht und mir in die Arme fällt. Ja, das würde ich mir so sehr wünschen. "Es tut mir leid!", krächze ich also erneut. Was soll ich auch sonst machen? Mir fällt nichts ein. Gar nichts. Obwohl ich verzweifelt nachdenke, was ich sagen könnte. Mein Kopf bleibt leer. "Chris!" Meine Stimme ist schon fast keine Stimme mehr. Ein Hauchen wenn überhaupt. Ein schuldbewusstes, trauriges Hauchen. Und ich lege meinen ganzen Schmerz in den nächsten Satz. "Es tut mir leid!", flüstere ich erneut. Ich wiederhole mich, ich weiß, aber mir fällt echt nichts besseres ein.  "Ich weiß. Und ich kann in unserer Situation gerade eh nicht lange böse auf dich sein, also...Habe ich gar keine andere Wahl, als dir zu verzeihen!" Er wendet den Kopf zu mir und lächelt schwach. Allerdings kann ich spüren, dass er mir in Wirklichkeit noch nicht 100%tig verziehen hat. Aber er versucht es. Er kämpft mit sich, das kann ich fast sehen. "Danke!", schluchze ich deshalb trotzdem, bevor ich ihn umarme und mein Gesicht in seinen Haaren vergrabe. Mein Wunsch von vorhin ist wahr geworden! Magisch. Ein riesiger Stein, ich glaube fast ein ganzer Berg, fällt von meinem Herzen, und eine angenehme Erleichterung macht sich in mir breit. Boa, was habe ich ein Glück mit meinem Bruder! Ein anderer hätte ewig sauer sein können. So nicht Chris. Er ist schon ein lieber, oder?

Ich glaube, manchmal weiß man gar nicht, wie viel einem Menschen wirklich bedeuten. Das merkt man erst, wenn man sie verliert. Dann sehnt man sich nach ihnen und wünscht sich nichts mehr, als diese Person wieder an seiner Seite zu haben. Man sollte sich viel öfter klar machen, wie wichtig bestimmte Personen einem sind und das nicht einfach als normal ansehen. Man sollte den Menschen danken und ihnen zeigen, dass man sie gern hat!

Also...Danke, kleiner Bruder! <3

Die Magie des Kämpfens❤ (Ehrlich Brothers Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt