Völlig aufgelöst lehnte ich mich an das Geländer. Hier oben herrschte ein kühler Wind, der meine Tränen getrocknet hätte, wären nicht neue im Sekundentakt meine Wangen hinuntergerollt.
Ich schluchzte laut auf. Ich war extra auf den Astronomieturm geflüchtet, weil ich wusste, dass mich hier oben niemand hören würde. Dass ich hier meine Ruhe haben würde, weil mir sowieso niemand folgen würde. Dass ich hier so vollkommen allein sein könnte, umgeben von Dunkelheit und Stille.
Doch was redete ich da? Hermine Granger war doch ihr Leben lang alleine gewesen. Nie hatte irgendwer versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen, versucht, mich zu verstehen.
Ron Weasley hatte absolut Recht gehabt, als er vor wenigen Minuten im Gemeinschaftsraum zu mir sagte, dass ich doch sowieso keine Freunde hatte. Ein paar Monate war ich nun schon auf dieser Schule - der Hogwartsschule für Hexerei und Zauberei.
Und, wie soll ich sagen? Diese wenigen Monate hatte ich fast ausschließlich in der Bibliothek verbracht, abgesehen von den Schlafenszeiten. Ich hatte weder versucht, mich mit den Mädchen meines Schlafsaales anzufreunden, noch hatte ich mich außerhalb des Unterrichts im Gemeinschaftsraum gezeigt.
"Du bist eine Streberin.", hatte der rothaarige Weasley gesagt. "Merkst du nicht selbst, dass du hier ganz allein bist?".
Natürlich lässt es sich einbilden, dass seine Reaktion auf den Wurzeln des altbekannten Neides gewachsen war. Aber was, bei Merlins Unterhose, könnte Ron Weasley an mir beneiden?
Vielleicht die Tatsache, dass ich immer im Mittelpunkt meiner Eltern stand, was man von ihm nicht behaupten konnte? Er stand immer im Schatten seiner Geschwister und suchte nun armselig die Aufmerksamkeit bei Harry Potter, dem Jungen, der überlebte.
Potter war an sich ziemlich nett, aber die Tatsache, dass er sich schon in den ersten Monaten mit Weasley angefreundet hatte, machte ihn für mich unsympathisch.
Ich schluckte. Der Wind hatte sich ein wenig gelegt und nun spürte ich die eisige Kälte auf meiner Haut. Ich sollte mir nicht so viele Gedanken über Menschen machen, die mir nur ein Hindernis im Leben waren. Ich würde mich in nächster Zeit einfach von Potter und Weasley fernhalten, so wie ich es auch mit meinen anderen Mitmenschen machte. Erfolgreich.
Ich spürte, wie sich jemand neben mich ans Geländer stellte. Verwundert blickte ich zu der Person auf. Wer hielt sich schon außer mir nachts hier oben auf?
Hellblondes Haar, spitzes Gesicht, von der Kälte gerötete Wangen. Ich schluckte: Hatte Draco Malfoy ein Gespür dafür, genau dann aufzutauchen, wenn er gerade am wenigsten erwünscht war?
Ich sah wieder auf das Schlossgelände hinunter, zu Hagrids Hütte, die still und verlassen dalag und zum Schwarzen See, in dem sich ebenfalls nichts regte. Hagrid, Fang und der Riesenkrake mussten schlafen. Es fühlte sich an, als würde das einzige Leben von Hogwarts hier oben zu finden sein.
"Mein Vater sagt immer,", flüsterte der junge Malfoy plötzlich, "dass wir uns nicht an den Menschen aufhalten sollten, die ohnehin nur ein Hindernis darstellen.".
Ich sah ihn überrascht an. So etwas sagte sein Vater? Das stellte alles in den Schatten, was ich jemals über Lucius Malfoy in einem Buch gelesen hatte. "Ein kluger Mann.", flüsterte ich.
Er nickte und ich fragte mich, woher dieser blonde Junge überhaupt wusste, was mich gerade am meisten bedrückte. Ich wischte mir verstohlen über die Wangen, aber die Tränen waren versiegt, ohne dass ich es mitbekommen hatte.
"Es war der Weasley, nicht wahr?", fragte er leise. Ich sah ihn mit großen Augen an. "Ja".
Er nickte. "Nimm das nicht zu ernst. Du musst dir vorstellen, wie es dir gehen würde, wenn du dein ganzes Leben lang im Schatten deiner Geschwister gestanden hast und alles, was du in deinem Leben erreicht hast, schon vorher von einem Verwandten getan wurde.".
Ich sah ihn lächelnd an. "Aber du bist Einzelkind?". Er nickte.
Ich seufzte. "Aber er hat ja Recht. Ich bin eine Streberin und ich habe hier keine Freunde.". Nun sah er mich doch an, aus sturmgrauen Augen. Er grinste schief. "Die Anzahl unserer Neider bestätigt unsere Fähigkeiten, nicht wahr?".
Ich blickte hinüber zum Verbotenen Wald. Er lag so still und friedlich da, dass man schon fast den Verdacht hegen konnte, er wäre gar nicht so unheimlich. Auf den Wipfeln der Bäume hatte sich eine weiße Schneeschicht gebildet. Es hatte angefangen, zu schneien.
"Danke.", sagte ich und wandte mein Gesicht in seine Richtung. Er lächelte leicht und streckte dann den Arm nach mir aus. Ich sah ihn verwundert an, doch er lächelte nur und holte eine Schneeflocke aus meinem Haar, die sich dorthin verirrt hatte.
Und ich weiß bis heute nicht, ob es an seiner kalten Körpertemperatur oder daran lag, dass diese Schneeflocke besonders war, aber sie schmolz nicht auf seiner Hand.
Und ich stellte lächelnd fest, dass Draco Malfoy mir gezeigt hatte, dass Menschen einzigartig waren - genau, wie die Schneeflocke auf seiner Hand.
~Es sind nicht die Fähigkeiten, die uns ausmachen, sondern die Entscheidungen, die wir treffen.~
Inspiriert durch die Harry-Potter-Bücher auf meinem Regal. Mir war irgendwie mal die Laune nach einem Dramione One Shot.
22.04.2017 22:43 Uhr
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World Explorers
General FictionDas Leben ist eine Sache, die so komplex und umfangreich ist, dass es nicht in der Natur des Menschen liegt, sie zu verstehen. Was nicht heißt, dass es nicht viele wenigstens versuchen würden. Ich zähle mich selbst auch zu diesen Menschen. Und auch...