»Der heiß ersehnte Tapetenwechsel«

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Die heiße Sonne strahlte unseren blassen Erscheinungen entgegen. Meine dunklen Augenschatten versteckten sich unter der schwarzen Sonnenbrille und behüteten die Trauer in mir wie einen kostbaren Schatz. Ich sah wie alle anderen Strandbegeisterten und Touristen aus. Bleiche Haut, die sich nach der wärmende Sonne sehnte und neben mir eine typische vollgepackte Tasche. Schon seit Stunden befanden wir uns an einem der zahlreichen Stränden Neuseelands und entflohen der herbstlichen Kälte in New York.

»Sieh nur!« Jazz deutete auf eine Gruppe junger Männer, die sich grinsend von den Klippen stürzten und den stürmischen Wellen ins Auge blickte. »Unfassbar! Wie kann man nur so wahnsinnig sein, dort hinunterzuspringen?« Begeistert beobachtete sie, wie der nächste in der Reihe mit einem Salto in das kalte Nass tauchte.

»Auf die Frage kann ich dir einfach eine Antwort geben«, entgegnete ich müde. »Es beflügelt deine Sinne. Niemals würde ich mich wegen dieser irreführenden Empfindung von dem rauen Gestein hinunterstoßen lassen. Doch jene die das Sterben im Kauf nehmen, ja zu denen würde ich zählen. Wenn dir der Tod begehrenswerter erscheint, als das Leben, dann würde selbst ich mich von der Klippe werfen.«

»Jetzt sag sowas doch nicht.« Mitfühlend und vorwurfsvoll zugleich lagen ihre Augen auf meiner dunklen Sonnenbrille. »Nick mag ein Arschloch sein, aber niemals sollte er zu dem Mann werden, der dich in einen Abgrund reißt, welchem du nur knapp entronnen bist. Deine Mutter hat eine viel schlimmere Entscheidung getroffen.« Kritisch zog ich meine Augenbraue nach oben. »Er hat dich verletzt und das ohne Rücksicht auf Verluste, doch sie war deine Mutter. Lass nicht zu, dass er dich zu der Frau macht, die Clarissa mehr ähnelt als dir selbst.«

Ein Gefühl der Schuld machte sich in meinem Magen breit. Jazz sorgte sich um mich und ich konnte dem kein Ende bereiten. Seit Tagen war der Alkohol mein bester Freund und ließ die Realität vor meinen Augen verschwimmen. Es lähmte meine Gedanken und umnebelte meine Sinne. Jene Droge, die mir so verhasst war und dessen Existenz meinen Vater in die tiefe Dunkelheit riss, rief nun auch mich zu sich.

Jasmine musste mich kaum wiederkennen und doch kannte sie dieses Verhalten. Sie wusste, dass ich versuchte, mich vor ihr zu verschließen und abzukapseln. Zu gut kannte sie mein Inneres und zu lange war sie schon Teil meines Lebens. Niemals würde sie zulassen, dass das passierte. Niemals würde auch sie mir den Rücken zukehren. Das zumindest war meine Hoffnung und zugleich meine größte Angst. Wenn auch sie mich verließ, dann hatte ich niemanden mehr. Mein Vater hatte es perfekt geschafft, alle aus seinem Leben zu verbannen. Er war ein Meister darin, sich von Freunden abzuwenden und ich seine Tochter. Mir war bekannt, dass viele Menschen irgendwann den Mut verloren, doch genauso war ich mir im Klaren, dass dies hoffentlich nur eine Phase war. Eine Episode der Zeit, die auch dieses Mal enden würde.

Ich konnte den Kopf nicht so schnell in den Sand stecken wie mein Vater. Wir waren uns zwar ähnlich, doch in dem Punkt unterschied ich mich eindeutig von ihm. Ich ließ mich zwar in dem Moment dazu hinreißen nur noch das Düstere zu sehen, doch genauso kämpfte ich mich wieder an den sonnigen Himmel zurück. Ich verweilte nicht in der Dunkelheit, sondern sah den Lichtblick weiterhin durch meine verschlossenen Gedanken. Ich wusste, dass diese Trauer enden würden und dass das Leben für mich weiterging. Doch im Augenblick? Ich war noch zu müde, um mich von meinen schmerzlichen Empfindungen zu lösen.

»Hast du heute schon mit ihr gesprochen?«, holte mich Jazz aus meinen tiefen Gedanken heraus und zeigte fragend auf mein im Schatten liegendes Smartphone.

»Mit wem?«, erwiderte ich irritiert und nahm einen weiteren Schluck des Sinne betäubenden Gifts.

»Clarissa? Du meintest doch, dass sie heute mit dir sprechen wollte. Eure wöchentlichen Telefonate?« Besorgt zog sich Jazz ihre Brille von der Nase und nahm mein iPhone in die Hand. »Sie hat dich schon mehrere Male angerufen, meinst du nicht, dass du vielleicht zurückrufen solltest? Immerhin ist sie der Sponsor deines Trips, so sehr du sie auch hasst.«

The Only OneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt